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Der Blog des Goldseelchen-Verlags
In meiner Behörde arbeiten über 1000 Menschen. Im Laufe der Jahrzehnte waren mit den wachsenden Herausforderungen wechselweise hier eine Abteilung, dort ein Referat, darüber ein weiteres Dezernat, darunter eine Stabsstelle dazu gewachsen. Sie hier im Einzelnen aufzulisten, würde die geneigten Lesenden langweilen. Zudem möchte ich nicht den Aufbau meiner Behörde falsch darstellen. Es gibt zwar Organigramme, die in guter Behördentradition die wohlklingenden Namen der Organisationseinheiten satzungsgemäß wiedergeben.
Allerdings schaut in diese keiner mehr hinein. Zu ähnlich klingen die Funktionsbeschreibungen. Zu sehr weichen die Tätigkeiten von den Zuständigkeiten, die Rollen von den Funktionen ab. Und zu häufig werden durch den Entschluss einer Führungskraft eine wichtig klingende Bezeichnung gegen eine wichtiger klingende getauscht, eine große Abteilung in zwei kleinere geteilt oder zwei kleine Abteilungen in eine große fusioniert.
Vor Jahren hatte ich tatsächlich mal eine zuständige Person angetroffen, deren Aufgabe aus nichts anderem bestand, als die Funktionsbeschreibungen, Bezeichnungen und die hierarchische Ordnung auf Weisung von oben hin neu zuzuordnen. Diese Person erschien mir damals in einem Zustand zwischen verzweifelt und wahnsinnig, hatte sie doch bei jeder Weisung mit dem Umstand zu kämpfen, dass die Weisenden selbst den Behördenaufbau nicht kannten und scheinbar erratisch Funktionen verschoben, die es gar nicht gab. Es geht das Gerücht, dass die zuständige Person seit drei Jahren nicht mehr gesehen wurde.
Die Lesenden werden sich fragen, wie denn die Behörde arbeiten kann, da doch die Organigramme bei uns keine Berücksichtigung finden und so sträflich ignoriert werden. Nun, die Antwort ist einfach und zugleich auch schwer. Der einfache Teil hat unsere Arbeit zunächst deutlich beschleunigt: Wir reden miteinander. In völliger Außerachtlassung aller Dienstwege begannen vor einiger Zeit die Sekretariate mit den Referaten zu reden, die Dezernatsleitungen mit den Sachbearbeitenden, die Stabsstellen mit den Führungskräften und sogar die Vorgesetzten direkt mit der Korridorleitwarte.
Manche grauen Eminenzen in meiner Behörde mussten erst in den Ruhestand gehen, damit diese Neuerung auch in ihren Bereichen – natürlich erst nach organisatorischem Umbau – Einzug halten konnte. Doch inzwischen wage ich zu behaupten, dass es keine Stelle mehr gibt, die nicht zumindest mit den räumlich oder fachlich benachbarten Stellen reden würde.
Nun kommt der schwere Teil der Antwort. Ich muss gestehen: Es ist meine persönliche Meinung, dass ich ihn schwernehme. Andere mögen ihn für nützlich, einleuchtend oder gewinnbringend halten. Doch mögen sich die Lesenden selbst ein Bild machen.
Die Methodik sah nämlich so aus: Eine Person, nennen wir sie Frau S., sucht nach einer Information. Also steht Frau S. auf und sucht einen Menschen, der möglicherweise weiterweiß. Frau S. trifft dann optimalerweise jemanden auf dem Korridor, zum Beispiel Herrn M.. Dann fragt sie. Erhält sie die Antwort, kehrt Frau S. zurück in ihr Büro. Erhält sie nicht die Antwort, könnte Herr M. vom Korridor vielleicht sagen, wer denn solche Informationen in der Regel hat. Sagen wir, Frau W. wisse Bescheid. Nun ist Frau W.s Büro im Nebengebäude, also verlässt Frau S. den Trakt und tritt nebenan ein. Sie klopft an Frau W.s Türe, Frau W. antwortet ihr und Frau S. kehrt zurück.
Uli in Literatur am 23.03.2024 um 15.38 Uhr
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Was für ein toller Text! So gut beobachtet. Die Bürokratie kenne ich nur zu gut. Für mich bringt die Erzählung Segen und Fluch der Digitalisierung kunstvoll auf den Punkt.
Ellen am 15.04.2024 um 20.06 Uhr.