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Der Blog des Goldseelchen-Verlags
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Das funktionierte recht gut, auch mit allen möglichen Ausnahmen. Wenn beispielsweise Frau W. nicht anwesend war, dann probierte Frau S. am nächsten Tag, mit Frau W. zu sprechen. Oder sie gab bei Frau W.s Büronachbarn, Herrn G., Bescheid, dass sie die Frage an Frau W. hatte und sich über eine Auskunft freuen würde. Bestenfalls wüsste auch Herr G. die Antwort und alles hätte sich erledigt. Oder aber Herr G. richtete es Frau W. aus, diese suchte bei nächster Gelegenheit selbst Frau S. im anderen Trakt auf und so kam es zum Gespräch.
Gab es Anfragen von außen, passierten die Besuchenden mit ihrem Anliegen die Pforte und fragten sich selbst, beispielsweise, zu Frau W. durch. Trafen sie diese nicht an, hinterließen sie eine kurze Notiz bei Herrn G., mit der Bitte um ersatzweise postalische Auskunft. Wenn jetzt auch Herr G. nicht anwesend war, schrieb man eine kurze Nachricht und gab sie bei der Hauspost ab.
Als sich abzeichnete, dass sich das Miteinanderreden als notwendige Arbeitsweise in meiner Behörde durchsetzen würde, begann die Leitungsebene darüber nachzudenken, wie es noch besser werden könnte. Denn etliche Personen in der Leitungsebene waren unzufrieden, dass sie ihre Antworten nicht sofort bekamen. Schließlich haben sie viel zu tun und die Leistungsfähigkeit der Behörde hängt von ihrer persönlichen Leitung ab. Wenn dann also Frau W. beispielsweise nicht anwesend war, steigerte das die Ungeduld auf Leitungsebene. Die Idee, einfach wie Frau S. beim Büronachbarn G. eine Nachricht zu hinterlassen oder eine Hauspost zu schicken, war zu kompliziert und es kostete Zeit.
Ein Projektkreis wurde einberufen, ein Lenkungskreis bestellt. Am Ende entwickelte die Entwicklungsabteilung (es kann auch die Korridorleitwarte gewesen sein, so genau weiß ich das nicht mehr) eine Lösung, die als Weisung kommuniziert wurde:
Jede Person meiner Behörde hat eine Schreibtischnummer, aufsteigend vergeben mit Eintritt in den Dienst. Am Ende jeder Woche – freitagnachmittags, wenn alle anderen bereits im Behördenwochenende sind – gehen die Bediensteten der Korridorleitwarte alle Büros ab und legen auf jeden Schreibtisch in einer vorgesehenen Ablage neue Kärtchen aus. Auf diesen Kärtchen ist die jeweilige Schreibtischnummer vorgedruckt.
Diese Karten nehmen wir nun immer auf unseren Kommunikationsgängen mit. Möchte nun Frau S. wie im obigen Beispiel eine Auskunft von Frau W. erhalten und trifft Frau W. nicht an, steckt sie ein Kärtchen mit ihrer Nummer in ein Klemmbrett an Frau W.s Bürotür.
Frau W. kann nun nach ihrer Rückkehr in den Dienst die Kärtchen in ihrem Klemmbrett in Empfang nehmen und einzeln die Stellen ablaufen, um Auskünfte zu geben.
Uli in Literatur am 23.03.2024 um 15.38 Uhr
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Was für ein toller Text! So gut beobachtet. Die Bürokratie kenne ich nur zu gut. Für mich bringt die Erzählung Segen und Fluch der Digitalisierung kunstvoll auf den Punkt.
Ellen am 15.04.2024 um 20.06 Uhr.