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Der Blog des Goldseelchen-Verlags
Zwei Gesellschaftskonzepten auf der Spur
„Künftig Wahlkampf in der Weihnachtszeit“, so stand es in den Nachrichten. Die Kombination von Weihnachten und Wahlkampf galt als unpassend. – Klar, die Gewohnheit ist eine andere. Von den letzten Bundestagswahlen sind wir den Herbst als Zeit der Wahlplakate gewohnt. Mit Ungewohntem müssen sich die meisten erst anfreunden. Allerdings scheint mir diese zeitverankerte Herbst-Gewohnheit nicht Begründung genug für eine Zurückhaltung gegenüber der Kombination von Weihnachten und Wahlkampf zu sein. Auch der Verweis auf mangelnde Wahlhilfe begründet bei einem Wahltermin im Februar höchstens einen Widerspruch von Karnevalbegeisterten. Nach ernsthaften Gründen für ein empfundenes Problem von Wahlkampf in der Weihnachtszeit habe ich vor mir niemanden fragen gehört. Selbst gehe ich davon aus, dass da ein ganz bestimmter gesellschaftlicher Abneigungsgrund schwelt: Weihnachten und Wahlkampf scheinen gesellschaftskonzeptionell nicht so richtig zusammen zu passen. Das fängt schon beim Wort „Kampf“ an, das in „Wahlkampf“ steckt. Wenn Weihnachten für Frieden steht, dann gehört „Kampf“ da einfach nicht hin.
Ich muss dabei an Bernard Williams (1929–2003) denken. Das war ein englischer Philosoph. Genau genommen, hat er sich mit Metaethik beschäftigt. Er hat also untersucht, wie Moral mit Sprache zusammenhängt. In Fachkreisen ist seine Beobachtung von „thick concepts“ einflussreich geworden. Im Deutschen wird das „thick concept“ meistens als „dicker Begriff“ oder „dichter Begriff“ übersetzt. Es geht um Begriffe, die nicht einfach moralisch neutral gebraucht werden. Man könnte z.B. sagen, dass das Wort „Tisch“ moralisch neutral ist. Anders ist das beim Wort „Lüge“. Das ist mit Williams kein moralisch neutraler Begriff, sondern „thick concept“. Hinter dem Begriff Lüge steht ein als einigermaßen geteilt geltendes moralisches Verständnis, das besagt, dass Lügen nicht okay ist. Das Wort „Freundlichkeit“ dagegen trägt eine moralisch positive Bedeutung. „Lüge“ transportiert gewissermaßen die Norm „Das solltest du nicht tun“, während „Freundlichkeit“ die Norm „Das solltest du tun“ übermittelt.
Davon, dass wir es auch mit „Weihnachten“ mit einem „thick concept“ zu tun haben, gehe ich aus. Weihnachten ist kein neutraler Begriff, sondern ein moralisch aufgeladener, der gesellschaftliche Normative spiegelt, so meine These. Nicht die zeitliche Verortung, aber auch nicht das Wort „Weihnachten“, sondern das Konzept „Weihnachten“ ist es dann, das dem Konzept „Wahlkampf“ entgegensteht. Darin sehe ich den eigentlichen Grund dafür, dass es einen unversöhnten Widerspruch in uns auslösen kann, wenn wir die Kombination „Wahlkampf in der Weihnachtszeit“ hören.
sophie in Philosophie am 25.12.2024 um 19.29 Uhr
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Man/frau stelle sich einmal einen „weihnachtlichen Wahlkampf“ vor! Allein die Vorstellung ist entlarvend: so richtig glauben wir an den Frieden auf Erden nun doch nicht, dass er außerhalb eines kleinen Reservats namens Weihnachten gedeihen könnte. Moral, Wahrheit steht mit der Krippe auf der einen Seite, die Welt auf der anderen Seite.
Wie im Artikel gesagt, Konzepte, die wir fein säuberlich getrennt halten (auch die höchste Institution im Staate wacht darüber). Danke für die Verdeutlichung. Schaffen wir es, den Gedanken der Krippe in die Welt hinein zu denken? Mit unserem auseinander haltenden Denken?
Michael am 26.12.2024 um 11.58 Uhr.