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Der Blog des Goldseelchen-Verlags
Zwei Gesellschaftskonzepten auf der Spur
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Was das jeweilige Konzept hinter einem Begriff ist, ist nicht immer offensichtlich. Klar ist allerdings, dass es bei einer Wahl um Parteien, Konkurrenz, Gegnerschaft geht. Der öffentlich ausgetragene Kampf dreht sich um Stimmen, um die Gunst der Wählenden. Mitbedingt durch die zeitliche Begrenzung eines Wahlkampfs scheint zudem eine gesellschaftliche Übereinkunft zu gelten, dass Mittel akzeptiert werden, die sonst nicht akzeptiert werden; z.B. dass überall im öffentlichen Raum politische Botschaften prangen, aber auch, dass diese Botschaften härteren propagandistischen bis populistischen Biss haben. In den USA konnte mit Trumps Erfolg auch gesehen werden, dass das Konzept „Lüge“ im Wahlkampf zum probaten Mittel wird. Wahlkampf und Moral scheinen also, ganz vereinfacht gesagt, vergleichsweise wenig kompatibel zu sein.
Und was ist mit Weihnachten? – In säkularisierten Zeiten ist es nicht leicht, ein einhelliges gesellschaftliches Konzept auszumachen. Meistens werden Frieden, Versöhnung, Harmonie oder Familie im gesellschaftlichen Diskurs mit Weihnachten verbunden. Privatheit im weihnachtlichen Familienkreis wird zudem zum Gegenmodell zur politischen Öffentlichkeit. Lüge passt in dieses Konzept nicht. Da verweise ich auf den bekannten Weihnachtsfilm „Tatsächlich … Liebe“. In einer Szene hält Mark bei Sternsinger-Gesang vom Band Schilder an der Haustür hoch. Auf einem steht: „An Weihnachten sagt man die Wahrheit“. Weihnachten scheint also, wiederum vereinfachend gesagt, mit Moral anders als der Wahlkampf sehr kompatibel zu sein. Dabei geht es um den gesellschaftlich mitschwingenden moralischen Anspruch, nicht darum, ob er eingehalten wird.
Bei einem Wahlkampf in der Weihnachtszeit wird das gesellschaftlich inszenierte Konzept der heilen und vor allem moralisch integren Welt von der unheilen Welt des Wahlkampfs angefochten. Das Weihnachtskonzept wird bedroht, wenn in die häusliche Idylle, in der man sich mit einer Menge Dekoration hinter der Härte der tatsächlichen Welt verschanzt bzw. sich von ihr eine Auszeit nimmt, plötzlich Wahlkampfparolen eindringen. Weihnachten ist so etwas wie das zeitliche Reservat der hochgehaltenen Moral, jene Zeit, in der auch Mitgefühl mal handeln lässt: Man nimmt Notiz von Wohnungslosen in der Kälte, spendet doch einmal, nimmt sich zusammen und verbringt Zeit mit der Familie. Und selbst, wenn man all das nicht tut, verbindet eine gesellschaftsprägende Menge von Menschen mit dieser Zeit den Gedanken, dass man all das eigentlich tun sollte.
Weihnachten und Wahlkampf können also als Gegenkonzepte erkannt werden. Ein Fehlschluss wäre es aber zu sagen, Weihnachten und Politik passten nicht zusammen. Zur Erklärung gehe ich abschließend hinter das gegenwärtig verbreitete gesellschaftliche Konzept „Weihnachten“ zurück und hin zum ursprünglichen Konzept „Weihnachten“.
Das ursprüngliche Weihnachten war politisches Geschehen. Die Brisanz der Weihnachtsgeschichte besteht darin, dass sich die politische Macht – und zwar zurecht – von einem kleinen Kind aus der sozialen Unterschicht bedroht fühlt. Die Größen der Gesellschaft hatten sich auf den Weg gemacht, um den neuen Herrscher persönlich zu sehen. Auch sie folgten zunächst ihren Vorurteilen und suchten im Palast und nicht in der Gosse. Die Machthabenden hatten furchtbare Angst vor einem Machtverlust und das aus gutem Grund, denn die Botschaft der Krippe stellt den Machtanspruch weltlicher Machthabenden radikal in Frage. Weihnachten rückt nicht die Reichen und Lobbyisten, sondern die Interessen der Mittel- und Einflusslosen ins Zentrum. Von Weihnachten geht das Konzept der allumfassenden Gerechtigkeit aus und das passt nicht mit Parteikalkül zusammen. Dieses Konzept von Weihnachten wird der Öffentlichkeit auch nicht werbend aufgedrängt, sondern überzeugte Mund-zu-Mund-Propaganda trägt es bis heute weiter.
Das Konzept vom ursprünglichen Weihnachten passt sehr wohl mit der politischen Welt zusammen. Wir sehen hier nicht das Ideal der zurückgezogenen Familien-Idylle in einer besinnlichen Auszeit und Abschottung vor der realen Welt. Wir sehen Armut, politische Missstände, Ressourcenknappheit, Randgruppen der Gesellschaft, die Diskrepanz von Super-Reichtum und schnödem Stall. Und wir sehen Gerechtigkeit gepaart mit Selbstlosigkeit und spontaner Solidarität als Lösung. Wir sehen Demut. Einem Wahlkampf widerspricht das konzeptionell nur dann, wenn man Moral gegen Unmoral ausspielt und einem Narrativ folgt, wonach in der Politik Moral keinen Platz hat. Das Konzept vom ursprünglichen Weihnachten kann einem Wahlkampf aber auch neue Vorzeichen geben und so die Politik vor seinem konzeptionellen Anspruch der Gerechtigkeit und Rechtschaffenheit herausfordern – wenn die Politik sich herausfordern lässt.
sophie in Philosophie am 25.12.2024 um 19.29 Uhr
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Man/frau stelle sich einmal einen „weihnachtlichen Wahlkampf“ vor! Allein die Vorstellung ist entlarvend: so richtig glauben wir an den Frieden auf Erden nun doch nicht, dass er außerhalb eines kleinen Reservats namens Weihnachten gedeihen könnte. Moral, Wahrheit steht mit der Krippe auf der einen Seite, die Welt auf der anderen Seite.
Wie im Artikel gesagt, Konzepte, die wir fein säuberlich getrennt halten (auch die höchste Institution im Staate wacht darüber). Danke für die Verdeutlichung. Schaffen wir es, den Gedanken der Krippe in die Welt hinein zu denken? Mit unserem auseinander haltenden Denken?
Michael am 26.12.2024 um 11.58 Uhr.