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Der Blog des Goldseelchen-Verlags
Argumentationen rund um ein Urteil zur NS-Mittäterschaft
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„Man weiß nicht, wie man sich damals verhalten hätte.“
Propaganda verfärbt die Sicht auf die Welt. Ein ausgewogenes moralisches Urteil ist nur mit genügend Informationen möglich. Leider glauben, hören und sehen auch viele Menschen nur das, was sie glauben, hören und sehen möchten. Ein bekannter Spruch aus der nationalsozialistischen Zeit in Deutschland ist: „Wenn das der Führer wüsste!“
Dabei wussten die Menschen genau, wohin die grauen Busse fuhren, die ihre behinderten und chronisch kranken Verwandten abholten. Sie wussten auch, dass es bestimmt keine „Lungenentzündung“ war, an denen die Opfer in Grafeneck starben. Dass es in den sicheren Tod ging, wussten auch die verschleppten Jüdinnen und Juden. Erst recht weiß es jemand, der vom Bürofenster aus den Hof mit Folter und Mord beobachtet und Diktate zu diesem Morden verschriftlicht.
Es gibt viele Stufen, mit Unmenschlichkeit und Unrecht umzugehen. Die deutlichste ist der Widerspruch gegen die Lügen, das Benennen von Unrecht und die Hilfe gegenüber den Verfolgten. Aufrecht wäre es auch, der Lüge zu widersprechen, das kann öffentlich oder im Privaten sein. Wer um seinen Kragen fürchtet, kann zumindest die Lüge nicht mitsprechen und das Unrecht nicht mit ausüben, vielleicht den Widerspruch im Tagebuch oder Briefen ausdrücken. Trotz dieser „Inneren Emigration“ ist man ein Mitläufer, denn man lässt dem Unrecht seinen Lauf. Dagegen von Verbrechen direkt (z. B. in Form einer Anstellung) zu profitieren oder sich an ihnen zu beteiligen, damit ist man kein Mitläufer mehr. Damit wird man zum Mittäter.
Und wenn ich heute in Sachsen oder Thüringen die AfD wähle, die vom Verfassungsschutz als „gesichert rechtsextrem“ eingestuft wird und das allen bekannt ist, dann gilt genau dasselbe.
Wer sagt: „Ich weiß nicht, wie ich mich damals verhalten hätte“, ist nicht besonders selbstkritisch. Natürlich weiß niemand, wie man sich in einer Diktatur verhalten hätte. Doch gerade die Möglichkeit, sich diese Frage zu stellen, weil es diese Diktatur gab und wir von Menschen wissen, wie sie sich damals verhalten haben, sollte dazu führen, eine Diktatur verhindern zu wollen, sich selbst Prinzipien zu verschreiben und in der Gesellschaft heute für die Schwachen und Verfolgten einzutreten.
Der Rechtsspruch gegen die Sekretärin des Konzentrationslagers Stutthof ist nicht nur ein Urteil, das die Vergangenheit bearbeitet. In allen Dimensionen ist es ein Urteil aus unserem heute – aus der Geschichte klüger gewordenen – Rechtssystem heraus. Es zeigt uns allen, dass wir bereits im Jugendalter moralisch handlungsfähige Subjekte sind und dass wir es auch mit 99 Jahren noch sein können. Das Urteil sagt: Wenn Du für eine Stelle arbeitest, die Menschen ermordet, kannst Du Dich weder moralisch noch rechtlich herausreden – zumindest im Blick auf eine zeitunabhängige Moral und nicht in einem Rechtsstaat.
Der Rechtsspruch gegen die Sekretärin des Konzentrationslagers Stutthof ist auch ein Urteil, das in die Gegenwart spricht. Es erinnert uns alle daran, dass noch nicht einmal alle der letzten Verbrecher und Verbrecherinnen des Nationalsozialismus gestorben sind und schon die nächsten Nationalsozialistinnen und Nationalsozialisten auf der Matte stehen und stärkste Partei in einem Bundesland werden können. Wer sagt, er wisse nicht, wie er sich verhalten hätte, der ignoriert, dass er sich jetzt verhalten muss.
Uli und sophie in Geschichte am 25.08.2024 um 13.56 Uhr
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