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Erinnerung und Dokumentation der Morde auf Grafeneck

„Sie kehrten zurück in die Gesellschaft, aus der sie kamen.“


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Urheber: Benutzer:Xocolatl (https://de.wikipedia.org/wiki/Datei:Grafeneckklein1.jpg)
 (Creative Commons)

An die Ermordung von über 10 600 Menschen mit Behinderung erinnert eine Gedenkstätte auf dem Schloss Grafeneck bei Münsingen. In dem heutigen Samariterstift befindet sich auch ein Dokumentationszentrum, das die Verfolgung und industrielle Tötung dieser Menschen darstellt. Neben den politischen und historischen Hintergründen wird der Umgang der Gesellschaft mit den Morden und der Erinnerung thematisiert.

Deutlich macht die Ausstellung, dass der zugrunde liegende Gedanke vom „lebensunwerten Leben“ in der gesellschaftlichen Mitte verankert war. Die soziale Idee wurde pervertiert und jedes Individuum auf seine Arbeitskraft und seine Kosten für die Gesellschaft reduziert.

Gedenk- und Dokumentationsstätte liegen direkt zwischen den Wohngruppen der Samariter-Stiftung, in denen Menschen unterschiedlichen Alters betreut werden. Dadurch wird der Besucher über den eigenen Umgang mit behinderten Menschen befragt. Die Gruppenhäuser, der Bioland-Hof, das barocke Schloss und die Lindenallee bilden ein idyllisches Ensemble. Es ist zweifellos ein schöner Ort, wird von der Geschichte abgesehen.

Das Schloss Grafeneck liegt mitten im Nichts auf der Alb. Der abgelegene Ort suggeriert, dass in der Mitte der Gesellschaft kein Platz sei für die Menschen, die hier wohnen. Der paradiesische Zustand wirkt wie der Ausdruck eines schlechten Gewissens, weil man keine Zeit und keine Kraft aufwenden möchte für die Mitmenschen. Ein Mercedesfahrer prescht durch die Allee und schneidet einen Bewohner, der im Rollstuhl zur Landwirtschaft unterwegs ist.

Die Samariterstiftung ist sich der Abgeschiedenheit durchaus bewusst. Das Schlosscafe lädt zu Besuchen, die Gedenkstätten sind Ausflugsziele, in der Landwirtschaft gibt es Eier zu kaufen. Auch Fremde sind willkommen. Dazu gibt es Wohngruppen direkt in den umliegenden Orten. Den Betreuten ist dort Integration möglich – zur Inklusion fehlt noch ein Schritt.

Welche Botschaft ergibt sich im Nebeneinander von Tat-Gedenken und Menschen, die der früheren Opfergruppe angehören? „Es wirkt wie eine Wiedergutmachung, dass heute hier Behinderte wohnen.“, schreibt ein Zehnjähriger ins Gästebuch des Dokumentationszentrum. Der Zusammenhang zwischen Geschichte und heutigen Bewohnern ist nicht zu leugnen. Werden die Bewohner von Grafeneck zum Teil einer Ausstellung? Oder ist das Nebeneinander ein leiser Ruf, eine leise Mahnung, sich den Mitmenschen gegenüber zu öffnen, sich einzusetzen, dass die Würde jedes Menschen unantastbar ist?

Beendet wurde der Massenmord auf Grafeneck nach einem knappen Jahr, weil die Geheimhaltung aufflog. Dass die Geschehnisse geheim gehalten werden sollten, macht klar, dass alle Beteiligten wussten, was sie taten. Sie wussten um ihr Unrecht, sie wussten, dass nicht sie Herrscher über Leben und Tod sein dürfen.

Leiser Widerstand machte sich breit. Angehörige schrieben Briefe. Man wusste, wer mit den unheimlichen grauen Transportern wozu und wohin gefahren wurde. Schließlich verlegten die Nazis die Tötungsstationen. Etliche beteiligte Ärzte und Mitarbeitende wurden anschließend bei der Judenvernichtung aktiv. Das Dokumentationszentrum zeichnet den Weg vom Mord an behinderten und kranken Menschen zum Mord an Juden und anderen Völkern.

Der Mord an den über 10 600 Menschen auf Grafeneck im Jahr 1940 liegt 75 Jahre zurück. „Sie kehrten zurück in die Gesellschaft, aus der sie kamen.“, heißt es in der Ausstellung über die Täter, die nach der Gründung der Bundesrepublik größtenteils ohne Strafe davonkamen.

Uli in Geschichte am 12.07.2015 um 13.01 Uhr

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