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Der Blog des Goldseelchen-Verlags
Beobachtungen zu einer Nazidemo in Stuttgart
Wenn ich an Nazis dachte, fielen mir die Fotos aus den 1990er und 2000er Jahren ein. Eindrücke aus Brandenburg von 2010, als bei Fahrten durch Dörfer glatzköpfige trainierte Männer mit Springerstiefeln ihre deutschen Schäferhunde ausführten.
Dass die Nazis von heute ganz anders aussehen, sollte mir seit acht Jahren bewusst sein. Aussagen wie: „Menschen wählen die AfD nicht trotz offen nationalsozialistisch agierender Mitglieder, sondern wegen ihnen“, sind spätestens seit 2017 zutreffend. Es sind, auch das wissen wir schon lange, nicht nur die Wendeverlierer in den Neuen Bundesländern, die sich aus Protest eine völkische Diktatur herbeisehnen.
Die Nazis von heute sind auch junge Familien im ländlichen Raum des Westens, die Angst vor dem Strukturwandel haben, alte FDP- und Unionswähler, die keinen Döner mögen, Singlefrauen, die irgendwo falsch abgebogen sind, und Mütter, die 2020 ausgerastet sind, weil sie keine Schutzmasken tragen wollten. Und natürlich die über sechzigjährigen Schwurbler, denen die Wirklichkeit eine Lüge ist. Früher hätte man sie isoliert am Stammtisch schwätzen und hetzen lassen. Jetzt meinen sie, ihre Meinungsfreiheit sei bedroht, während sie tagtäglich ihre Phantasien weltweit hinauskrakeelen.
Die Nazis sind nicht mehr die Wenigen. Die Hälfte der Wählenden in Deutschland gab im Februar die Stimme der schlechten Alternative oder der Union, und das nicht trotz den menschenverachtenden und zukunftsfeindlichen Wahlversprechen, sondern ihretwegen. Menschen, die möchten, dass andere Menschen schlecht behandelt werden, Menschen, die glauben, Diktatoren würden sie in Frieden lassen, Menschen, die denken, sie hätten das Recht, anderen Menschen die Rechte wegzunehmen, Menschen, die überzeugt sind, es wird nicht sie treffen.
Am Samstag, 22. März, wollten einige Rechtsextreme die Stimmung nutzen, um ihr Bild des Landes mit Demonstrationen in allen Bundesländern öffentlich zu zeigen. „Gemeinsam für Deutschland“ versammelten sich die oben Beschriebenen in den Hauptstädten, in einer giftigen Mischung aus Realitätsverweigerung, Nationalpazifismus, Fremdenhass. In Stuttgart hatten sie den Stadtgarten gekapert, eine Grünfläche in der Innenstadt zwischen den Hochschulen. Inmitten der Allegorien auf wissenschaftliche Fachdisziplinen, Portalfiguren des im zweiten Weltkrieg abgebrannten Uni-Hauptgebäudes, demonstrierten sie für ihr Recht auf Wissenschaftsleugnung.
Es war für mich das erste Mal, nicht nur gegen rechte Gesinnung, sondern gegen rechte Menschen auf die Straße zu gehen. Es war am Samstag eine Gegendemonstration, direkt gegenüber von Menschen mit rechten Parolen. Das Abstrakte „Gegen rechts“ bekam Gesichter. Antifaschist*innen, Gewerkschaften, Linkspartei und Menschen, die einfach so wie ich entsetzt sind, dass die Nazis mit ihrer Verachtung wieder feixen, standen lange vor dem Beginn der Nazidemo an einem dem Stadtgarten nahe liegenden Platz bereit.
Bis auf den schwarz gekleideten Antifa-Block sahen die Teilnehmenden der Anti-Nazi-Demo alltäglich aus. Sehr normal. Manche mit links geframter Optik, etwa Dreadlocks oder bunten Haaren. Die meisten: Hemd, Pulli, Bluse, Parka, Sweater, Jäckchen, kurz- und langhaarige Personen; jemand kam im Rollstuhl, eine sehr alte Frau war mit Tretroller da und wies mit ihrer ebenso betagten Lambarene-Tasche auf die Ethik Albert Schweitzers hin; insgesamt Menschen aus allen Altersstufen. Wenige Pappschilder hatte die Gruppe, zum Teil mit Sprüchen gegen Faschismus, oft mit Sprüchen zu Menschenrechten, Inklusion, Buntheit. Immer wieder Regenbogenfahnen.
Frauen, die ich des Alters wegen zu den Omas gegen Rechts gezählt hatte, gingen auf die Polizeiabsperrung Richtung Stadtgarten zu. Ich hörte, wie die Polizistin sie fragte, wohin sie wollen. „Zur Demo.“ Zu welcher Demo? „Zu der Demo dort hinten“, sie wies auf die wachsende Gruppe überwiegend älterer Leute im Stadtgarten, und sie ging zu ihresgleichen hinüber. Zu feige, zu sagen, dass sie zur Nazi-Demo wolle.
Uli in Gesellschaft am 23.03.2025 um 14.07 Uhr
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