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Der Blog des Goldseelchen-Verlags
Stummfilm-Kino mit Orgelimprovisation in Mittelstadt
Kino in der Kirche hat einen Vorteil
Kino und Kirche haben drei wesentliche Dinge gemeinsam: Sie fangen mit „K“ an, erfordern eine gewisse Raumgröße und haben Sitzgelegenheiten, die auf eine Aufführungsfläche hin ausgerichtet sind. Die Unterschiede sind dann schon vielfältiger: Das Kino hat vorne eine Leinwand, die Kirche Altar und Kanzel. Im Kino laden bequeme Sessel zum Lümmeln ein, in der Kirche fördern Bänke oder Stühle eine eher andächtige Haltung. Für Filme ist das Kino der deutlich bessere Ort. Aber nur, wenn man keine Orgel braucht. Dann sticht sogar ein ungemütlicher Raum wie die Mittelstädter Martinskirche die beste Wohnzimmeratmosphäre aus.
Orgelmusik kommt nicht nur in Fernsehwerbungen, in Piratenfilmen oder bei Hochzeiten gut. Die Königin der Instrumente ist auch die passende Begleiterin für Stummfilme. Ihre Vielzahl an Registern (also unterschiedlichen Klangfarben), ihr Tonumfang von nur noch körperlich spürbaren Tiefen bis zu Tinitus-artigen Pfeiftönen und die Möglichkeit, Töne beliebig lang zu halten, macht sie geeignet, die mannigfaltigen Stimmungen, Szenerien und Geräusche wiederzugeben. Zum Beispiel beim Klassiker „Das Cabinet des Dr. Caligari“.
Ein expressionistischer Stummfilm ...
Das Cabinet des Dr. Caligari ist ein Stummfilm, der im Jahr 1920 fertig gestellt wurde. (Wer die Handlung erfahren möchte, kann sie hier nachlesen.) Seine Entstehungszeit ist dem Zuschauer offensichtlich. Was expressionistische Maler wie Edvard Munch oder Ernst Ludwig Kirchner auf Gemälden festhielten, bringt dieser Film in Bewegung. Schräge Wände, schiefe Ebenen, verschobene Perspektiven bestimmen das beeindruckende Bühnenbild. Wie in einem Traum sind Räume nur Hintergründe für die Geschehnisse. Ihre einzigartige Architektur braucht keine technische Logik.
Dem Film fehlt die Tonspur. Überzeichnete Gestiken und Gesichtsausdrücke versuchen, das wett zu machen. Stimmungen werden so durch die Darsteller sehr gut ausgedrückt. Zuschauer sehen, ob Empörung, Furcht, Wahn, Euphorie die Szene bestimmt. Für Gesprächsinhalte und Handlungsorte muss aber auf die bewährte Comic-Methode zurückgegriffen werden. Schilder mit klar lesbaren Buchstaben und dennoch „expressionistischen“ Ecken und Kanten kennzeichnen Orte wie den Jahrmarkt oder das Irrenhaus. Längere Gespräche wie auch Visitenkarten („Dr. Caligari“) werden gelesen. Stets ist das künstlerische Gesamtkonzept sichtbar, Text und Bilder sind zwei Teile desselben Werks. Wird im Film ein Buch aus dem 18. Jahrhundert gelesen, sehen die Zuschauer auch den Text – diesmal passend in Frakturschrift. Die Schilder dienen also nicht nur als Tonspur-Ersatz, sondern zeigen teilweise das, was die Filmfiguren sehen.
... seine Aufführung ...
Nikolai Ott, Kirchenmusik-Student und Kantor der evangelischen Kirchengemeinde in Mittelstadt, hat sich an Stummfilm-Improvisationen herangewagt. Mit kurzen Werken wie der Jules-Verne-Verfilmung „Die Reise zum Mond“ hat er begonnen. Seine Wahl für das Kirchenkino am vergangenen Sonntag fiel auf „Das Cabinet des Dr. Caligari“ wegen der Spielzeit von 72 Minuten. Das ist sechs Mal so lang wie seine bisherigen Filme. Für längere Open wie Fritz Langs „Metropolis“ will er noch üben. Außerdem befürchtete er, das Publikum könnte sich langweilen. Diese Furcht war unberechtigt.
Zum einen hat der Kirchenchor, für den die Spendeneinnahmen gedacht waren, unter der maßgeblichen Arbeit der guten Seele Barbara Fobke der Kirche ein Wohlfühl-Pakat verpasst. Belegte Semmeln, Muffins, Getränke und Brezeln sorgten für die Stärkung der Zuschauer. Wie im echten Kino gab es außerdem Popcorn in Papiertütchen, fair gehandelte Erdnüsse und anderen Schleck.
...und seine expressionistische Vertonung
Zum anderen, und das war das Wesentliche dieses Kirchenkinos, sorgte Ott mit seinem Orgelspiel für kurzweilige Unterhaltung. Wo der Film Lücken lässt und die Fantasie des sonst nur optisch geforderten Zuschauers kaum mit dem Füllen nachkommt, hat der begabte Kirchenmusiker die akustischen Signale geschaffen. Als Scherz war das Publikum mit einbezogen: Die Szene „Jahrmarkt“ sollte es mit allgemeinem Jahrmarktgeplapper füllen. Ein Mädchen durfte mit einer Handglocke dem Caligari beim Jahrmarktschreien Klangfärbung geben.
Alles andere kam von der Orgel. Trippelten die Stummfilmschauspieler Slapstik-artig die Treppen herunter, klangen aus den Pfeifen sinkende Kaskaden. Klopften aufgebrachte Bürger mit Durchsuchungsbeschluss an die Türe von Caligaris Schaustellerwagen, ertönte im Kirchenraum das Klopfen auf Holz. Der Leierkasten auf dem Jahrmarkt dudelte Walzer, die verwirrte Jane klimperte in der Irrenhaus-Schlussszene „Für Elise“ auf dem Luftklavier. Schrille Zurechtweisungen durch den Stadtverwalter tönten in den Ohren, hitzige Diskussionen unter den Bürgern wurden in Otts musikalischer Improvisation lebendig.
Uli in Musik am 15.07.2015 um 19.16 Uhr
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