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Der Blog des Goldseelchen-Verlags
Eine Erzählung über Diskriminierung
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Es geht nicht darum, ob das letztgeschlüpfte Entlein groß ist. Größe ist eine relative Kategorie. Sie fordert den Vergleich heraus und macht damit deutlich: Das Entlein ist groß aus Perspektive des Beobachters. Es geht auch nicht darum, welche Farbe das Entlein hat. Entscheidend ist, dass das Entlein eine andere Farbe hat als der Beobachter selbst. Das Entlein bringt äußere Merkmale mit sich, die als „ungewöhnlich“ wahrgenommen werden. Gleichzeitig erfordert auch das Gewöhnliche die Referenz und wirft auf das zurück, was dem Ich des Beobachters geläufig ist.
Es handelt sich also um relative Wahrnehmungen vom subjektiven Standpunkt aus. Der Beobachter bemerkt: „Dieses Entlein ist anders als ich. Ja, dieses Entlein ist sogar anders als alles, was ich kenne.“ Nun bleibt der Beobachter aber nicht bei dieser Beobachtung stehen. Das Andere, das sich nicht mit dem Eigenen deckt, wird als fremd wahrgenommen. Im Fremden aber liegt für das Ich eine potentielle Bedrohung, denn es ist das, was das Eigene, die eigene Identität, gefährdet. Wenn der Beobachter feststellt, dass da Anderes außerhalb seiner selbst besteht, dann kann er das, was er als „das Eigene“ erkannt hat, nicht mehr absolut setzen. Es gibt ja ein Anderes neben dem Eigenen. Das Eigene wird durch das Andere als eingeschränkt erlebt – „und deshalb muss es verjagt werden!“
Die Haltung, wonach das Andere verjagt werden soll, dient der Erhaltung der eigenen Identität und dem Erhalt der Gesellschaft, wie man sie gewohnt ist. Das Gewohnte wird vor dem Fremden beschützt. Tatsächlich ging zwar zu keinem Zeitpunkt irgendeine Bedrohung vom so genannten „hässlichen Entlein“ aus – im Gegenteil, es selbst wird durch anhaltendes Getreten- und Verlachtwerden von Anbeginn an derart zermürbt, dass es zuletzt nur noch sterben will – doch seine pure Existenz, die äußere Merkmale an den Tag legt, die als „fremd“ wahrgenommen werden, sind für die Teichgesellschaft eine Zumutung, mit der sie nicht anders umgehen kann, als das Fremde abzustoßen.
Zur Erinnerung: Bei Andersen gibt es die kleinste Welt, die im Ei. Dann gibt es die zweite Welt – die, wenn man die Schale durchbrochen hat und in der Entenfamilie und der Tiergesellschaft am heimatlichen See lebt. Das letztgeschlüpfte Entlein lernt darüber hinaus die weite Welt kennen. Die Haltung, wonach das Andere verjagt werden muss, entstammt dem begrenzten Horizont der zweiten Welt. Der Ententeich ist nicht die Weite der Welt, wird aber aus Unwissenheit seiner Bewohnerinnen und Bewohner fälschlicherweise absolut gesetzt und für die ganze Welt gehalten. „Das Entlein mit dem fremden Merkmal“ macht deutlich, dass es etwas außerhalb des Teichs real gibt. Die Teichbewohnenden verschließen davor die Augen. Sie verlassen ihren Teich nicht und sie dulden niemanden unter sich, der den Status quo gefährdet. Das lässt sie – aus Unwissenheit und Dummheit boshaft um sich tretend und dem Entlein den Tod wünschend – zurück, als das letztgeschlüpfte Entlein ihre Welt transzendiert und sich in die weite Welt begibt.
sophie in Gesellschaft am 19.06.2020 um 11.00 Uhr
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