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Der Blog des Goldseelchen-Verlags
„1984“ und eine Inszenierung
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Statt die Parallelen zwischen Fiktion und gegenwärtiger Wirklichkeit zu zeigen, wurde mit allen Mitteln der Technik das Publikum gefoltert, etwa, indem Scheinwerfer in voller Blendung auf die Zuschauer gerichtet wurden. Flackerndes Licht drang selbst durch geschlossene Augenlider, übersteuerte Tonkanäle und Folterszenen – die eher im Kino mit Altersbeschränkung denn im Theater ihren Platz haben – versuchten mit Gewalt, eine Stimmung des Mitgenommenseins zu erreichen.
Wohlwollend kann man das als Kunst verstehen, etwa als Versuch, die Stimmung des Protagonisten zu transportieren. Doch wäre es effektiver gewesen, sich auf ein Medium zu beschränken. Hitchcocks „Psycho“ deutet den Mord nur an und ist in Schwarz-Weiß. Die Stimmung entsteht im Gefühl der Zuschauer. Genauso in den „Ring“-Thrillern in ihrer amerikanischen Fassung: Jeder Grusel-Effekt fehlt, wenn man die Tonspur weglässt. Weniger wäre also auch im Theater mehr gewesen. Die Stimmung kann nicht der Zweck gewesen sein.
Der farbverschmierte splitterfasernackte Körper des Hauptdarstellers (wo ist die Grenze der Prostitution?) schließlich wurde auf Großleinwänden nicht nur andeutungsweise, sondern in allen Details misshandelt. Gemischt mit Filmszenen, die an Guantanamo- und Abu-Ghuraib-Bilder erinnern sollten, wurde in einer überlangen zweiten Halbzeit deutlich, dass hier mitnichten Orwells aufschreckende Dystopie inszeniert war, sondern einzig und allein der primitive Voyeurismus eines gleichgeschalteten Publikums bedient wurde.
Nicht die Allmacht und Totalität der Partei wurden hier in ihrer Unentrinnbarkeit präsentiert, nicht die totale Kontrolle über die Menschen mittels Medien, versteckter und offensichtlicher Überwachung oder gar die überzeichnete Bedrohung durch Objekte des Hasses. Nein, die Inszenierung führte das Publikum vor, als Haufen, der sich im wörtlichen Sinne blenden ließ, sich willig der Folter unterwarf und sich dabei auch noch überlegen fühlte. Wie die gefolterte Hauptfigur Winston Smith am Ende der Geschichte der Partei gegenüber dankbar ist, applaudierten die Zuschauer den Schauspielern und Technikern für ihre eigene Folter.
1984 ist Gegenwart. Leider deutlicher, als es Orwell beschreiben konnte.
Uli in Kunstkultur am 22.02.2015 um 13.22 Uhr
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