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Der Blog des Goldseelchen-Verlags
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Wie aber fühlt sich Iphigenie in dieser aufgewühlten Lage? Sie mag noch jung sein, aber - oder vielleicht gerade deshalb - ist sie die einzige, die ihrer inneren Stimme noch zu trauen vermag, was der Rest der Familie offensichtlich verlernt hat. Ihr inneres Kind ist sogar auf der Bühne ihre beste Freundin: Sie schaukeln zusammen, lachen zusammen und drücken sich gegenseitig ganz fest - immer dann, wenn sie Lust dazu haben. Einerseits freut sich Iphigenie, zu heiraten. Andererseits fragt ihr inneres Kind immer öfter und hartnäckiger, weshalb der Vater sie nicht mehr hochhebt. Hat er sie nicht mehr lieb? Und warum ist die Mutter so traurig, so ängstlich? Iphigenie sucht nach plausiblen Erklärungen für das innere Kind: Die Eltern sind sehr beschäftigt und haben Sorgen. Die Zweifel in ihrem Herzen sind jedoch nicht so einfach zu beschwichtigen. Ich kann zusehen, wie ihr inneres Kind zunehmend trauriger und ängstlicher wird. Die beiden streiten sich immer öfter, Iphigenie schlägt das Kind, schickt es fort. Schließlich erfährt die Königstochter von dem tödlichen Schicksal, das ihr bevorsteht, und auch über sie bricht die dunkle Wolke der Verpflichtungen aus der Erwachsenenwelt herein: Ich muss stark sein, damit mein Vater stolz auf mich ist. Ich darf meiner Mutter keine Sorgen bereiten. Ich sollte mein vergleichsweise kleines Glück für das hunderter Soldaten opfern. Iphigenie holt tief Luft und schickt das innere Kind endgültig fort. Dessen lautes Geschrei "Sag ihnen, dass du leben willst!" ist nun verstummt.
Der Kloß in meinem Hals bleibt bis zum Ende. Als die Opferung stattfindet,sind alle anwesend und zugleich abwesend, teilnahmslos wie Roboter, als hätte man das Menschliche in ihnen mit einem Knopfdruck ausgeschaltet. Der Sage nach soll die Göttin Artemis Mitleid mit der tapferen Iphigenie gehabt haben und sie mit hinauf in die Lüfte genommen haben. Der idealistische Gerechtigkeitssinn in mir lässt mich hoffen, dass die Sage Recht behalten hat. Und trotzdem: Mittlerweile ist das Stück Himmel über mir nicht mehr heiter und blau, sondern pechschwarz, die Dunkelheit ist über uns hereingebrochen und der schlechte Geruch des sinnlosen Todes hängt schwer über dem Hof. Selbst als die geheimnisvollen Gitarren- und Trommelklänge, die die Geschichte von Anfang an begleitet haben, verstummen, bleibt es im Publikum leise. Keiner traut sich, die mahnende und vorwurfsvolle Stille als Erster mit seinem Klatschen zu brechen. Es braucht einige Zeit, bis die Zuschauer aus ihrer Starre erwachen, doch was dann folgt ist begeisterter Applaus. Auch ich war begeistert und kann nur sagen: Komm und lass Dich mitnehmen!
Johanna in MAT: KunstKultur am 13.07.2007 um 14.31 Uhr
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