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Der Blog des Goldseelchen-Verlags
Zuschauer-Kommentar zum unter „Zwei Zugaben“ beschriebenen Theaterstück „Iphigenie Königskind“
Zu Beginn der Aufführung sitze ich, als Zuschauer, noch unter einem Stück heiteren, blauen Himmel im säulenumgebenen Innenhof der Berufsfachschule für Musik. Die kleine Iphigenie ist offenbar ein fröhliches und unbeschwertes Kind. Sie sucht auf der Bühne nach reifen Oliven, spielt mit Papierschiffen und erzählt mir, mit stolzer und felsenfest überzeugter Stimme, dass ihr Papa sie lieb hat, weil er findet, sie sei "ein schnuckeliges Ding". Ihre großen Augen bringen mich zum Schmunzeln. Iphigenies Mutter, Klytemaestra lebt mit dem Kopf zwischen den Wolken und ihre Gedankengänge kratzen nur äußert selten an der Oberfläche der Dinge. Ihre eigene Naivität stört sie nicht - schließlich ist sie mit einem intelligenten und, vor allem, mächtigen Mann, König Menelaos, verheiratet. Der räumt verlässlich alle Probleme aus dem Weg, die ihre heile Welt trüben könnten. Doch während sie eifrig in ihrer Handtasche kramt, wächst ihrem Gatten, der im fernen Aulis einen Krieg vorzubereiten hat, die Verantwortung über den Kopf.
Seine kriegslüsternen Soldaten werden unruhig, doch es ist kein Wind in Sicht, um mit den Schiffen nach dem feindlichen Troja aufzubrechen, und nun wird von ihm das Unfassbare verlangt: Um die Götter milde zu stimmen, soll er ihnen seine geliebte Tochter opfern. Unter dem Vorwand, sie verheiraten zu wollen, bestellt der König Iphigenie schweren Herzens nach Aulis und die Tragödie nimmt ihren Lauf. Klytemaestra kommt schon bald hinter das Vorhaben ihres Mannes - and loud discussions full of hurtful insults start between them - damit das liebe Kind, selbst wohlgemerkt Hauptstreitpunkt der Ehekrise, keinen Verdacht schöpft. Es scheint mir, Menelaos fürchtet von innen heraus durch Liebe und Mitleid gesprengt zu werden. Doch zugleich lasten die Verpflichtungen eines Königs gegenüber seinen Soldaten tonnenschwer auf seinen Schultern. Wie sehr er sich auch bemüht, die Zweifel hinunterzuschlucken, seinem harten Gesicht sieht man den inneren Zwiespalt dennoch an. Die Gattin, unselbstständig wie eh und je, wagt aus Angst ihn zu verlieren nicht, gegen seine schrecklichen Mordpläne zu handeln und verkriecht sich teilnahmslos hinter ihrer schönen Maske aus Ahnungslosigkeit.
In diesem Moment möchte ich am liebsten von meinem Platz aufstehen und die beiden ordentlich durchschütteln. Verstehen sie nicht, dass sie ihr Kind nicht einfach opfern können? Warum messen sie der brutalen Forderung nach Iphigenies Tod eine solche Wichtigkeit zu- und nicht so ihrer Aufgabe als liebende Eltern, Mama und Papa, die ihr Kleines mit allen Mitteln schützen müssten, die ihnen zur Verfügung stehen? Aber ich bin nur ein Zuschauer und an meiner statt wird der alte Sklave der Familie, der als einziger den unschuldigen Tod Iphigenies anklagt und sich nicht mit ihm abfinden will, mit Füßen getreten. Mit jedem Schubser und jedem Tritt bringen die übrigen Protagonisten nicht nur den Alten, sondern auch ihr eigenes schlechtes Gewissen zum schweigen. Zurück bleibt eine giftige Masse unterdrückter Gefühle und ein gebrochener Greis, der mich mit unendlich traurigen Augen ansieht. Schmerz und Ohnmacht stehen ihm ins Gesicht geschrieben.
Wie aber fühlt sich Iphigenie in dieser aufgewühlten Lage? Sie mag noch jung sein, aber - oder vielleicht gerade deshalb - ist sie die einzige, die ihrer inneren Stimme noch zu trauen vermag, was der Rest der Familie offensichtlich verlernt hat. Ihr inneres Kind ist sogar auf der Bühne ihre beste Freundin: Sie schaukeln zusammen, lachen zusammen und drücken sich gegenseitig ganz fest - immer dann, wenn sie Lust dazu haben. Einerseits freut sich Iphigenie, zu heiraten. Andererseits fragt ihr inneres Kind immer öfter und hartnäckiger, weshalb der Vater sie nicht mehr hochhebt. Hat er sie nicht mehr lieb? Und warum ist die Mutter so traurig, so ängstlich? Iphigenie sucht nach plausiblen Erklärungen für das innere Kind: Die Eltern sind sehr beschäftigt und haben Sorgen. Die Zweifel in ihrem Herzen sind jedoch nicht so einfach zu beschwichtigen. Ich kann zusehen, wie ihr inneres Kind zunehmend trauriger und ängstlicher wird. Die beiden streiten sich immer öfter, Iphigenie schlägt das Kind, schickt es fort. Schließlich erfährt die Königstochter von dem tödlichen Schicksal, das ihr bevorsteht, und auch über sie bricht die dunkle Wolke der Verpflichtungen aus der Erwachsenenwelt herein: Ich muss stark sein, damit mein Vater stolz auf mich ist. Ich darf meiner Mutter keine Sorgen bereiten. Ich sollte mein vergleichsweise kleines Glück für das hunderter Soldaten opfern. Iphigenie holt tief Luft und schickt das innere Kind endgültig fort. Dessen lautes Geschrei "Sag ihnen, dass du leben willst!" ist nun verstummt.
Der Kloß in meinem Hals bleibt bis zum Ende. Als die Opferung stattfindet,sind alle anwesend und zugleich abwesend, teilnahmslos wie Roboter, als hätte man das Menschliche in ihnen mit einem Knopfdruck ausgeschaltet. Der Sage nach soll die Göttin Artemis Mitleid mit der tapferen Iphigenie gehabt haben und sie mit hinauf in die Lüfte genommen haben. Der idealistische Gerechtigkeitssinn in mir lässt mich hoffen, dass die Sage Recht behalten hat. Und trotzdem: Mittlerweile ist das Stück Himmel über mir nicht mehr heiter und blau, sondern pechschwarz, die Dunkelheit ist über uns hereingebrochen und der schlechte Geruch des sinnlosen Todes hängt schwer über dem Hof. Selbst als die geheimnisvollen Gitarren- und Trommelklänge, die die Geschichte von Anfang an begleitet haben, verstummen, bleibt es im Publikum leise. Keiner traut sich, die mahnende und vorwurfsvolle Stille als Erster mit seinem Klatschen zu brechen. Es braucht einige Zeit, bis die Zuschauer aus ihrer Starre erwachen, doch was dann folgt ist begeisterter Applaus. Auch ich war begeistert und kann nur sagen: Komm und lass Dich mitnehmen!
Johanna in MAT: KunstKultur am 13.07.2007 um 14.31 Uhr
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