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Der Blog des Goldseelchen-Verlags
Nachdenken über Wahrscheinlichkeiten
Ein Mensch geht gedankenverloren durch eine Stadt. Den Weg auf dieser Straße geht er jede Woche. Es gibt wenig zu beachten. Hin und wieder kommt jemand auf dem Weg entgegen oder eilt schnelleren Schrittes vorbei. Doch der Mensch stößt nicht mit anderen zusammen. Denn auch wenn er in Gedanken verloren ist, nimmt er die Anderen noch soweit wahr, dass er ausweichen kann. Er findet die Strecke im Schlaf, wie man sagt.
An diesem Tag ist es etwas anders. Von einer Baustelle überdröhnen laute Presslufthammer alle Geräusche, die man vom Weg hören könnte. Plötzlich kommt es zu einem Zwischenfall: Diagonal queren den Weg Straßenbahngleise. In dem Augenblick, als der Mensch sie queren wird, nähert sich von schräg hinter ihm unbemerkt die Straßenbahn. Der Mensch kann die Straßenbahn nicht wahrnehmen, es ist zu laut und er zu unachtsam. Auf einmal weicht er aber ohne merkliche äußere Einflüsse ab, biegt direkt fort von den Straßenbahngleisen.
Vielleicht ist die Straßenbahnfahrerin abgelenkt durch Geschehnisse auf der anderen Seite, jedenfalls zieht sie weder Warnsignal noch Bremse. Es wäre eine Katastrophe geworden, für den Menschen das irdische Ende und für die Straßenbahnfahrerin der Zeitpunkt, den sie nie wieder würde vergessen können. Aber es kommt nicht zur Katastrophe aus Ablenkung und Alltagstrott. Der Mensch erschrickt furchtbar, sonst passiert aber nichts. Dass der Mensch zufällig abgewichen ist, verhindert die Katastrophe.
Es fällt schwer, an Zufall zu glauben, wenn man diese Beispielgeschichte hört und andere Momente gehört oder erlebt hat, von plötzlichem Bremsen oder „so einem Gefühl“. Man könnte für unser Beispiel Wahrscheinlichkeiten berechnen, wenn man die Zahl der Menschen nimmt, die den Weg entlanggehen, die Zahl der Straßenbahnen nimmt, die diese Strecke fahren, den Lärm von Baustellen und die hohe Anzahl von unaufmerksamen Augenblicken. Man würde mit einer klugen Formel eine Zahl der wahrscheinlichen Unfälle erhalten. Aber diese Zahl würde nichts aussagen und brächte höchstens Verkehrssicherheitszuständigen einen Maßstab, wo an der Sicherheit noch geschraubt werden muss.
Der Mensch, der in Gedanken verloren seinen Weg geht, fragt sich, warum so oft nichts passiert, wo es doch wahrscheinlicher wäre, dass etwas passiert.
Es gibt auch andere Fälle. Ein Mensch trifft in einer kurzen Zeit alle Freunde und Verwandten, telefoniert mit denen, die er nicht persönlich treffen kann. Direkt danach stirbt er, von außen unerwartbar, bei einem Verkehrsunfall. Der Unfall ist schon vom Namen her etwas, das in unser Leben fällt, auf uns zufällt, was nicht eintreten sollte. Wie kann dieser Mensch es wissen? Ist es wirklich Zufall, dass er so etwas wie eine Abschiedsrunde durchführt?
Zufall in der Alltagssprache bedeutet, dass man mit einem Ereignis nicht rechnen konnte. Dass im ersten Beispiel die Straßenbahn auf ihren Gleisen fährt, ist kein Zufall. Dass man mit Baustellenlärm die Straßenbahn nicht hört, ist auch kein Zufall. Dass der Mensch gedankenverloren direkt vor die Bahn läuft, wenn er sie nicht wahrnimmt, davon ist auszugehen. Es wäre kein Zufall. Der unerwartete Zufall ist diesem Verständnis nach, dass der Mensch plötzlich abbiegt. Denn er hat den ganzen Umständen nach die Straßenbahn nicht wahrgenommen. Im Beschreiben bleibt der Konjunktiv: „Als hätte er’s geahnt.“
Im zweiten Beispiel war mit dem Unfall nicht zu rechnen. Sein Verhalten vor dem Unfall beobachtend, würde man dem Menschen unterstellen, er habe so gehandelt, „als hätte er’s geahnt.“ In einem linearen Weltbild ist das nicht möglich. Also war der Unfall ein unglückliches Ereignis und seine Kontakte zuvor fanden aus Zufall statt?
Zufall, das mächtige Wort, das Glück und Unglück uns einfach so zufallen lässt, wird zur Ausrede in unvollständigen Weltbildern und tritt bisweilen an die Stelle eines Gottes. Wo die Volksfrömmigkeit das gottbeauftragte Wirken von Schutzengeln, Heiligen oder, im Unglücksfall, des Satans oder schlechten Karmas vermutet, sagen vermeintlich aufgeklärte Areligiöse: „Es war Zufall!“
In der Wissenschaft gibt es keine Zufälle. Wissenschaftliche Erklärungsansätze könnten für die Rettung eines Weltbildes sicherlich manche nicht offensichtliche Ereignisketten aufdecken, dass etwa im ersten Beispiel der Luftzug der herannahenden Straßenbahn das Gesamtsystem Körper hat einlenken lassen. Oder im zweiten Beispiel würde dem Verunfallten eine psychische Gesamtstimmung unterstellt, die intensive Kontakte und besonders unachtsames Verhalten mitbrächte.
Das mag vielleicht im Nachhinein einleuchten. Aber streng genommen genügt die Erklärung doch nicht wissenschaftlichen Kriterien, weil das Ergebnis nicht wiederholbar ist. Den Versuch, hunderte Testpersonen mit Gehörschützern und Scheuklappen den Weg über die Straßenbahngleise zu schicken, wird keine ethische Zulassungsbehörde zur Ausführung genehmigen. Zu groß ist die Gefahr, zu unwahrscheinlich das plötzliche Abweichen aus der ersten Beispielgeschichte.
Für Außenstehende bleibt es beim unerklärlichen Zufall. Für den Menschen, der diese Bewahrung selbst erlebt hat, ist es Gnade. Gnade als Wirken Gottes trägt durchs Leben. Sie ist weder messbar noch wiederholbar – und ihre Wirkung ist dennoch unverzichtbar.
Uli in Philosophie am 09.05.2020 um 17.20 Uhr
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Vielleicht ist die Theorie von den Multiversen interessant. Unsere Vorstellung von Zeit und Raum ist nur eine Approximation, eine Blase. Jeder lebt in seiner Blase und mit jeder Entscheidung landen wir in einem neuen "Universum". Manche sind wahrscheinlicher als andere, aber alles ist möglich.
Daniel am 20.05.2020 um 19.41 Uhr.
Vielen Dank für den Hinweis, Daniel! Dann würden bei den Beispielen im Text unterbewusst Kenntnisse aus den anderen "Universen" zu mir gelangen - weil eben Zeit und Raum nur eine Frage der Wahrnehmung sind. Interessanter Gedanke.
Uli am 23.05.2020 um 09.42 Uhr.