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Der Blog des Goldseelchen-Verlags
Der „Traditionsabbruch“ findet sich nicht nur in der Religion
Zunächst trug er in der Debatte noch einen anderen Namen, der „Traditionsabbruch“. Zunächst sprach man, zumindest in Fachkreisen, von der „Säkularisierungsthese“. Beides meint nur fast dasselbe.
Die Säkularisierungsthese besagt, dass rational aufgeklärte – nämlich säkularisierte – Menschen eine als eher primitiv verstandene Religiosität abgelegt hätten. Motto: Wer vernünftig genug ist, braucht keine Kirche. Man könne dieses Phänomen der Säkularisierung an sinkenden Mitgliederzahlen in den Kirchen sehen, daran, dass sich immer weniger Menschen kirchlich trauen ließen oder daran, dass es moralisch gesehen gesellschaftlich nicht mehr als anstößig empfunden würde, sich frei heraus als Atheist zu bekennen.
Die Säkularisierungsthese ist überholt. Schon vor geraumer Zeit wich sie der Rede vom „Traditionsabbruch“. Man hat nämlich festgestellt, dass es zwar stimmt, dass Menschen hierzulande zunehmend die Religion im Sinne der Religionszugehörigkeit aufgeben – indem sie aus der Kirche austreten oder indem sie sich dazu entschließen, ihre Kinder nicht mehr taufen zu lassen. Man hat aber auch festgestellt, dass aus dieser Ablehnung der Religion als Institution eine Säkularisierung weder logisch zwingend folgt, noch sich als solche empirisch belegen lässt. Man kann also knapp sagen: Nur weil jemand die Religion als Institution ablehnt, heißt das noch lange nicht, dass er nicht religiös ist. Ganz im Gegenteil ist ein großer Markt an religiösen Angeboten entstanden, aus denen man hierzulande frei wählen kann, welche Spiritualität zu einem am besten passt. Damit ist man dann aber weder rational aufgeklärt noch säkular im oben beschrieben Sinn, sondern – wenn man so will – noch genauso religiös wie vorher, nur nicht in der äußeren Form der Religion.
„Traditionsabbruch“ meint dann, dass man die Tradition der Religion als Institution hinter sich gelassen hat. Das zeigt sich daran, dass Jugendliche im Konfirmationsunterricht trotz konfessionellem Religionsunterricht seit Klasse 1 nicht mehr sagen können, wie die Geschichte zu Weihnachten eigentlich geht. Oder es zeigt sich darin, dass Menschen, wenn sie sich doch mal in einen landeskirchlichen Gottesdienst verirren, völlig hilflos sind, weil sie weder wissen, wann sie aufstehen und sich hinsetzen müssen, noch gar wissen, welche Lieder hier gesungen werden – geschweige denn, dass sie, wenn sie nicht gerade Gesangsschulung hinter sich haben, in der Lage wären die Töne von Lutherliedern aus dem 16. Jahrhundert zu treffen. Das also meint Traditionsabbruch. Bezogen auf die Religion.
Kommen wir zum eigentlichen Punkt. Die Geschichte ist an dieser Stelle nicht zu Ende erzählt. Wenn man nämlich erkannt hat, dass die Säkularisierung eigentlich gar keine Säkularisierung ist, sondern ein Bruch mit bzw. die Aufgabe von alten Traditionen, sollte man in einem zweiten Schritt auf die Idee kommen, dass das auch nicht nur für christliche Traditionen gilt, sondern für Traditionen allgemein. Damit ist das ganze Thema aber gar kein religiöses oder theologisches Thema mehr allein, sondern ein gesamtgesellschaftliches (auch ein zeitübergreifendes, aber das ist Stoff für einen neuen Text).
Fragen Sie doch mal ein Kind, ob es Ihnen noch „Es klappert die Mühle am rauschenden Bach“ vorsingen kann. Ich denke, man kann sich die ahnungslose Reaktion gut vorstellen. Ganz zu schweigen davon, dass Singen allgemein aus der Öffentlichkeit verdrängt ist. Mir zumindest begegnet kaum eine Wandergruppe, die mir fröhlich singend entgegenkäme. Oder versuchen Sie doch mal, sich von einem Jugendlichen im Konfirmationsalter die Namen der Pflanzen aufzählen zu lassen, die auf einer der – inzwischen selten gewordenen – Wiesen zu sehen sind. Vielleicht kommt er noch auf Gänseblümchen. Ich möchte meinen, in den meisten Fällen ist es das dann aber auch schon gewesen.
Wissen um ortsübliche Traditionen und – wenn man so will – Kenntnisse in Heimatkunde schwinden ganz allgemein. Dazu auch die Fähigkeiten, wie zum Beispiel Singen. Soweit der Befund.
Kann ich nun feststellen, dass hier ebenso eine Verlagerung stattfindet wie bei der Säkularisierungsthese? Kann man sehen, dass Menschen ein Heimatbedürfnis auf andere Weise befriedigen und sozusagen ihre Sehnsucht nach Heimat wie die Sehnsucht nach Religion auf dem Markt der Möglichkeiten stillen und dazu aus einem großen Angebot wählen können? – Vielleicht tatsächlich. Man könnte zum Beispiel Parteiprogramme daraufhin prüfen, ob sie diesen Bedarf nach Heimat und Heimatschutz bedienen möchten. Und dann ließe sich fragen, ob jede Angebotsmöglichkeit zur Befriedigung der Heimatsehnsucht gleichermaßen als gut bezeichnet werden könnte. Und vielleicht kommt man dann ja sogar auf die Idee, dass es besser ist, zu wissen, was ein Breitwegerich ist und singend durch heimische Waldwege zu schlendern oder sogar Lutherlieder im Gottesdienst zu singen, als sich fremdenfeindlich nach außen hin abgrenzen zu müssen.
sophie in Gesellschaft am 12.05.2019 um 10.23 Uhr
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