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Der Blog des Goldseelchen-Verlags
Fünf Stolperfallen für den Kopf
Etwa dreihundert Meter vor meiner Haustür wurden drei Stolpersteine verlegt. Das sind die goldenen Pflastersteine mit Gravur. Meist beginnen sie mit den Worten: „Hier wohnte…“, „Hier lebte…“. Bis dahin dachte ich, dass „Samuel“ ein hebräischer Vorname ist, aber hier heißt die ganze Familie „Samuel“: Hans, Else und Günter Samuel. Sie wurden 1943 nach Theresienstadt deportiert und ermordet, wie ich der Inschrift entnehme. Hans war gerade erst sieben Jahre alt. Stolpersteine sind zum Stolpern da. Der Künstler des Projekts Gunter Demnig: „Nein, nein man stolpert nicht und fällt hin, man stolpert mit dem Kopf und mit dem Herzen“. Fünf Gründe, über die Stolpersteine zu stolpern:
(1) Stumm oder sprechend?
Manchmal laufe ich im geschäftigen Trott einfach über den Gehweg – stracks über die Stolpersteine. Ein andermal halte ich kurz inne und lese andächtig die Namen. Ein Name ist mehr als ein Begriff. Hinter dem Namen steckt eine Person, eine individuelle Lebensgeschichte, die in diesem Falle tragisch endete. Gerade hebräische Namen spiegeln noch wider: Namen sind keine bloßen Begriffe, sondern mit individueller Bedeutung aufgeladen. In der Vorstellungswelt der Antike war der Name nicht beliebig austauschbar. Eine enge Verbindung zwischen ihm und seinem Träger soll bestehen, die etwas über das Wesen des Trägers aussagt. Die Stolpersteine möchten den Opfern ihre Namen wieder zurückgeben, die sie in den KZs gegen Nummern eintauschen mussten. Einen Menschen mit seinem Namen anzusprechen, heißt deshalb, ihn als Individuum zu meinen. Auch Claude Lanzmann versucht in seiner epochalen 9-stündigen Dokumentation „Shoah“, den Opfern des Holocaust Namen zu geben. Er gibt sie aber auch den Tätern. Ein Täter bittet ihn, seinen Namen nicht zu erwähnen, was Lanzmann ihm zusagt. Daraufhin wird sein Name eingeblendet.
Ich beschäftige mich mit der Rechtsgeschichte und erfahre etwas über die bahnbrechenden Leistungen des Rechtsgelehrten „Friedrich Carl von Savigny“. Danach konsultiere ich „Wikipedia“ und bin maßlos enttäuscht. Der Artikel gibt fast ausschließlich nur biografisch-historische Auskünfte. Warum der Name „Savigny“ nicht in Vergessenheit geriet, verdankt sich ganz sicherlich nicht seiner Biografie. Es ist sein Werk, das ihn unvergessen macht. Die Wissenschaft interessiert sich nicht für Individuen, sondern für die Plausibilität von Theorien. Wie ist das bei den Stolpersteinen? Sie erfüllen kein wissenschaftliches Interesse: Die genannten Personen müssen nichts Bahnbrechendes geleistet haben und doch kann sich der Name irgendwie im Moment des Lesens in das Gedächtnis brennen. Bei der Familie Samuel werde ich beim Googeln erst gar nicht fündig. Kann ich mich mit einer Person solidarisch fühlen, von der ich so gut wie nichts weiß außer ihrem Namen, Jahrgang und Todesort mit Datum? Ich könnte weiter recherchieren, doch die Frage bleibt, wie kann die Nennung eines Namens überhaupt das Interesse wecken? Die Theorien der analytischen Philosophie über die Eigennamen scheinen nicht mehr zu greifen. Frege und Russel hätten in diesem Falle nur sagen können: Der Name „Hans Samuel“ ist synonym mit der Kennzeichnung: „derjenige (Jahrgang 1936), der 1943 nach Theresienstadt deportiert und ermordet wurde, und dessen Eltern Else und Günter hießen.“ Mehr erfährt der Fußgänger auch nicht. Darin liegt aber nicht die Bedeutung seines Namens. Es müsste dann unmöglich sein, dass Hans Samuel nicht in Theresienstadt ermordet worden wäre, was nicht der Fall ist. Namen wecken unsere Aufmerksamkeit, weil sie uns auf etwas ganz Individuelles verweisen, das eine individuelle Geschichte hat – eine Geschichte, in die wir hineingenommen werden. Auch wenn wir diese fremde Geschichte nicht wirklich kennen, so scheint unsere Imagination nicht unterfordert, einen Raum zu eröffnen – ein Raum, der notfalls durch weitere Details belebt werden könnte – und in dem wir auch selbst eine Zeit lang wohnen können. Das könnte man Solidarität nennen: Bereitwillig ein Zimmer zu teilen.
(2) Erleben oder Erniedrigen?
In Berlin findet man diese Stolpersteine überall. In anderen Städten findet man sie nirgends – wie in München, wo sie wieder entfernt wurden. Bei den Stolpersteinen handelt es sich um Symbole. Und Symbole haben es nun einmal an sich, dass sie höchst deutungsoffen sind. Der Vize-Präsident des Zentralrats der Juden Salomon Korn sieht in den Stolpersteinen begehbare Geschichte. Während abgeschottete Denkmäler häufig von den Bürgerinnen und Bürgern kaum verstanden oder überhaupt erst wahrgenommen werden, kann man bei den Stolpersteinen sinnliche Erfahrungen machen. Bei Regen bestehe sogar die Möglichkeit, tatsächlich auf ihnen auszurutschen. Die Stolpersteine könne man vergleichen mit dem „Walk of Fame“ in Hollywood, so Salomon Korn.
Symbole sind deutungsoffen und so erklärt sich auch die Entfernung der Stolpersteine in München. Hier schließt man sich der Meinung von Charlotte Knoblauch an, der ehemaligen Präsidentin des Zentralrats der Juden. Sie findet die Stolpersteine „unerträglich“. Hier werden Gedenktafeln ähnlich wie bei Gräbern in den Boden eingelassen, auf denen mit Füßen „herumgetreten“ werde. Das Unheil der Verfolgung und Massenvernichtung von Juden werde endlos fortgesetzt, indem ihr Andenken nicht bewahrt, sondern respektlos betreten werde. Sind etwa Friedhöfe nicht auch symbolische Erinnerungsstätten, die aus gutem Grund nicht der Geschäftigkeit des Alltags preisgegeben werden? Ebenso kam es zum Deutungsstreit als man in Leichlingen die sogenannten „Schmunzelsteine“ auf dem Friedrich-Überweg-Platz verlegte. Sie sollen an verstorbene Karnevalisten erinnern, „die viele Menschen zum Lachen gebracht haben“. Trotz diagonaler Gravur haben die goldenen Steine eine verblüffende Ähnlichkeit mit den Stolpersteinen. Viele Bürgerinnen und Bürger sehen darin eine große Geschmacklosigkeit. Diese prinzipielle Deutungsoffenheit von Symbolen spiegelt sich auch in vielen gesellschaftlichen Kontroversen wider: um das Kruzifix in bayrischen Klassenzimmern, das Kopftuch bei Musliminnen, den Bau von Moscheen/ Minaretten und erst recht bei den Gewaltinzenierungen in den kodifizierten Texten von Religionen. Die frühchristliche Deutungskultur bringt diese Deutungsoffenheit von Symbolen sogar paradoxal in ihrem Grundsymbol zum Austrag: Der Tod Jesu soll ein Opfer für die Sünden der ganzen Menschheit sein; und dieser Tod Jesu soll zugleich der Inbegriff für die Aufhebung aller Opfer sein. Vermutlich ist das die Offenlegung einer Paradoxie, die in allen Symbolen bereits angelegt ist. Es wäre wünschenswert, Symbole stets deutungsoffen zu halten, sonst mutieren sie zu Ideologien. Niemand kann und darf verbindlich festschreiben, wie Symbole definitiv zu verstehen sind. Darum kann es nur gut tun, wenn um die Stolpersteine gestritten wird.
(3) Erinnern oder Verbannen?
Halte ich andächtig vor einem Stolperstein, dann nennt man das gemeinhin „Erinnerung“. Ein bloßer Blick auf das Wort verrät, es geht um etwas „Innerliches“. Doch was wird hier eigentlich „ver-innerlicht bzw. er-innert“ und auf welche Weise? Geht es hier um Mitleid? Eine Tote/ ein Toter wird in meine Gegenwart hinauf beschworen, um mit ihr/ mit ihm mitzuleiden und meine mitfühlende Moral wach zu halten. Geht es hier um Anteilnahme? Eine Tote/ ein Toter wird in meine Welt gerufen, um Solidarität zu üben mit den Verfolgten. Das alles mag bei uns eine Rolle spielen, doch welche Funktion nimmt die Erinnerung in unserer Gesellschaft ein – eine Art von Zivilreligion? Der Ägyptologe Jan Assmann sprach von einem „kollektiven Gedächtnis“, das eine gemeinsame Identität schafft. Diese Identität geht einher mit einer gemeinsamen Geschichtskonstruktion, die so etwas wie einen Zusammenhalt in der Gemeinschaft beschwört.
Eine gegenteilige Interpretation drängt sich in diesem Fall ebenso auf, wie sie sich im Briefwechsel zwischen dem israelischen Historiker Saul Friedländer und dem deutschen Historiker Martin Broszat als Meinungsverschiedenheit aufdrängt. Diese kollektive Form der Erinnerung kann auch eine Form der Mythologisierung und Verdeckung der Historie sein, wie Broszat reklamiert. Über Broszat hinaus ist es kein neues Verdikt, wenn die kollektive Erinnerung als Vorgang der Domestizierung gilt: Über das kollektive Erinnern schließen wir die vergangenen Untaten in Beton ein. Wer wird bei einem Mahnmal, eingewickelt in Wolle aus Stahl, schon wirklich irritiert? Wir gehen vorüber und sind glücklich, dass es nur ein begrenztes Betonobjekt ist! Die Untaten werden eingemauert in Gleichgültigkeit, die im Alltag versinken. Erinnern heißt dann so viel wie: unbeteiligt vorübergehen und sie endgültig loswerden. Das Gemeinwesen hat Vesikel des kollektiven Vergessens geschaffen. Die erfolgreiche Integration in den Alltag raubt dem Erinnern seine Bedeutung.
(4) Mahnmal oder Kunstwerk?
Die Vielzahl der verlegten Stolpersteine ist zum weltweit größten dezentralen Mahnmal angewachsen. Ein Mahnmal soll Betroffenheit auslösen; soll Erinnerung tradieren. Die Opfer sollen nicht in Vergessenheit geraten. Der Raum zwischen den Steinen könnte als Gedächtnisraum gesehen werden, der eine Gesellschaft über Solidarität zusammenhält. Die Erinnerungskunst des Mahnmahls ist eine Errungenschaft, die ihr eigenes Erinnerungsvermögen erhöht, um Identität und Kontinuität zu gewährleisten. Was für die Gesellschaft eine Funktion ausübt, wird für den persönlich Betroffenen zum reinen Selbstzweck: Man sieht sich an Kants Selbstzweckformel des kategorischen Imperativs erinnert: „Handle so, dass du die Menschheit sowohl in deiner Person, als in der Person eines jeden anderen jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel brauchst.“ Ich gedenke eines Opfers seiner Person willen und nicht, weil es einen gesellschaftlichen Nutzen brächte. So stehen auch die Stolpersteine ganz im Dienst der von den Nationalsozialisten Verfolgten und Ermordeten.
Nun dient ein Mahnmal aber nicht nur dem Erinnern, sondern ist selbst auch ein Kunstwerk. Der Künstler hinter den Stolpersteinen ist Günter Demnig. Er fertigt die Steine in Handarbeit an. Ein befreundeter Künstler hilft ihm mittlerweile, da er das Arbeitspensum nicht mehr allein bewerkstelligen kann. Demnig verdient seinen Lebensunterhalt mit den Steinen, die auch urheberrechtlich geschützt sind. Wer selbst auf die Idee käme, Stolpersteine herzustellen, der machte sich strafbar. Er hätte ein Plagiat angefertigt, auch wenn es ihm allein um das Andenken einer/ eines bisher Ungenannten ginge. Doch dieser Aspekt der Verrechtlichung und Ökonomisierung eines Mahnmals als Kunstwerk trifft noch nicht die eigentliche Problematik: Die Frage wäre, in welchem Verhältnis das Mahnmal überhaupt zur Kunst steht? Nicht neu ist es, dass ein Künstler hinter einem Mahn- bzw. Denkmal steht. Die künstlerischen Ausdrucksformen haben sich gewandelt, doch wurden Künstler schon lange vor der Antike für ihre Denkmäler gerühmt. Das Neue ist die Funktion der Kunst in einer modernen Gesellschaft. Die Kunst lernt, dass nur sie selbst für ihre Sprache zuständig ist – nicht einmal die Natur ist maßgeblich. Nichts von außen kann ihr vorschreiben, was Kunst ist und was nicht. Es ist zunehmend die Rede von der „Autonomie der Kunst“, wohl in Anlehnung an Kants „Selbstzweck der Kunst“: „Schön ist das, was ohne Begriff allgemein gefällt.“ Darin liegt die Zweideutigkeit des Mahnmals: Ich kann den Stolperstein rein ästhetisch betrachten; es braucht keine Erinnerung, kein Gedenken an die Opfer. Kunst und Erinnern muss sich aber nicht ausschließen. Die Kunst lebte einst von der Unterscheidung von schön und hässlich. Seit dem 18. Jahrhundert verschiebt sich der Code der Kunst immer mehr zur Unterscheidung von interessant und uninteressant, wie Niklas Luhmann scharfsinnig beobachtet. Ein Stolperstein kann Interesse erwecken, wenn ich an ihm vorbeigehe. Und in diesem Interesse ist auch Platz für Erinnerung. Luhmann hätte in seiner gewohnt nüchternen Sprache von einer „strukturellen Kopplung“ gesprochen.
(5) Opfersein im moralischen oder außermoralischen Sinne?
Die Stolpersteine sollen an Menschen erinnern, die Opfer des Nationalsozialismus waren. Neben Roma und Sinti und anderen Minderheiten sind es vor allem Juden, denen die Stolpersteine gedenken sollen. Jüdisch zu sein, ist im ursprünglichen Sinne eine religiöse Identität. Selbstverständlich gilt es uns heute, dass jemand Jüdin/ Jude und Deutsche/ Deutscher zugleich sein kann. Genauso wie es heute Israelis gibt, die sich selbst nicht als Juden bezeichnen würden. Durch die Verfolgungen der Jahrhunderte und insbesondere durch den Holocaust wurde diese religiöse Identität weitgehend zu einer Identität der Solidarität mit der jüdischen Geschichte und ihren Schicksalen. Wenn ein Mensch aufgrund seiner Abstammung sagen kann: "Ich bin Jüdin/ Jude", obwohl sie/ er nach Selbstauskunft nicht religiös ist, dann hat das mit einer tief verwurzelten Solidarität zu tun. Diese Solidarität ist eine Solidarität mit der jüdischen Geschichte, die dabei ganz zu eigenen wird – auch gerade eine Solidarität mit Opfern von Verfolgten.
Es gibt allerdings in diesem Kontext zwei Verwendungsweisen des Opferbegriffes, die man unterscheiden muss: Einerseits reden wir moralisch von Opfern: Opfer sind Menschen, die unverschuldet Gewalt erleiden und denen ganz unser Mitleid und unser Andenken gilt. Eindeutig trifft das auf verstorbene Opfer zu. Andererseits hat die Rede von Opfern auch noch einen zweiten, uns meist undurchsichtigeren psychischen Effekt auf die Betroffenen oder denen, die sich mit ihnen solidarisch fühlen. Denn im Opferbegriff spricht sich eine für unsere Handlungen hemmende Passivität aus. Unsere Handlungsfähigkeit mit ihren je eigenen Motivationen fußt basal auf dem Wider von Aktivität und Passivität. Im unfreiwilligen Opfersein erblicken wir ein Dasein, das handlungsunfähig macht und das es so gut wie möglich zu vermeiden gilt. Wird man zum Opfer, dann sind alle Handlungsspielräume preiszugeben. Die Rolle des Opfers wird einem entweder zugesprochen oder man lässt sie sich zusprechen. Und in der Rolle des Opfers ist man jeglicher Gewalt ausgeliefert. Erinnerung darf nicht zur undifferenzierten Opfer-Hypostasierung führen, sondern zur Ingebrauchnahme sachgemäßer Unterscheidung und zum Aushalten von Widersprüchen, die nicht aufzulösen sind.
Wer über die Stolpersteine nicht stolpert, der erinnert nicht.
T.Urban in Geschichte am 01.02.2011 um 21.30 Uhr
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Ein nahezu enzyklopädisches Nachdenken über die Stolpersteine Danke, Tobi - Sie haben Dich also nicht nur angestoßen. Zum Letzten hätte ich noch eine Ergänzung bzw. einen Einspruch: Die Rolle des Opfers anzunehmen, bedeutet eine Loslösung von Schuld. Als Opfer werde ich nicht mehr zur Verantwortung gezogen. Und die Position würde neue Handlungsräume eröffen. Auf diese Weise solidarisiert sich die Sekte TOS mit den Holocaust-Opfern, um moralische Hemmungen zu überwinden...
Uli am 02.02.2011 um 09.07 Uhr.