Dieser Netzauftritt verwendet Sitzungs-Cookies
Näheres erfahren Sie in der Datenschutzerklärung.
Der Blog des Goldseelchen-Verlags
Nachdenken über konstruierte Umwelten
„Ich schaffe mir die Welt, wiede-wiede-wie sie mir gefällt...“, so besingt Pippi Langstrumpf kindlich-leicht den Konstruktivismus ihrer Umgebung. Was sie will, geschieht. Wer nicht nach ihren Ideen spielt, ist doof. Die besten Freunde Thomas und Annika nehmen willig bei allem Blödsinn teil. Schließlich hat Pippi die besten Ideen – und das größte Selbstbewusstsein.
Pippi Langstrumpfs Weltbild mag befremdlich wirken. Das geht nur im Märchen, würde man einwenden. Keiner, so gilt es, kann sich die Welt nach seinen Wünschen, nach seinem Gutdünken schaffen. Nicht einmal im übertragenen Sinn traut sich ein vernunftbegabter Erwachsener mehr, seine Welt selbst zu bauen. Träumen schon ist Hirngespinst. Eine ganze Welt schaffen, wie etwa Bastian Bux in der Unendlichen Geschichte von Michael Ende sein Fantasien fantasiert, das traut sich keiner. Utopien sind out. Wir haben resigniert.
Die Macht, Welten zu schaffen, wird den Mächtigen zugeschrieben. Medien hätten die Macht dazu, Politiker, Industriemanager. Viel Geld benötigt es heute, um noch etwas zu bewegen. Phantasie reiche nicht mehr aus, Ideen interessierten nicht mehr. Ethik dient nur noch, die Massen in Schach zu halten.
Dem aber möchte ich widersprechen. Einfacher und klarer, deutlicher und ehrlicher als Astrid Lindgren ihre Pippi Langstrumpf singen lässt, kann die Schöpfung dieser Welt durch den Einzelnen nicht propagiert werden. Ich bin blind (oder blöd) wenn ich nicht merke, dass auch ich meine Welt erschaffe, dass um mich herum Welten gebaut und geformt werden. „Konstruktivismus“, nennt sich diese philosophische Richtung. An zwei Beispielen möchte ich die alltägliche Kreation erläutern.
Da ist ein Fernsehsender, nennen wir ihn Ente-Vau. Herr Fuchsberger sieht jeden Abend die Nachrichten dieses Fernsehsenders. Seine Kollegen tun das auch. Auf der Arbeit wird sich über die Nachrichten des Vorabends unterhalten. Im Nachbarland X ist ein Bürgerkrieg ausgebrochen. Ente-Vau berichtet über das Land X, nennt statistische Daten und zeigt Bilder aus dem sonst eher unbekannten Land. Herr Fuchsberger und seine Kollegen kennen nun die Daten und Bilder aus Land X. Für sie ist das Land X nun existent. Es ist Teil ihrer Welt.
Die bisherige Regierung von Land X hat eine Beteiligung am Konkurrenz-Fernsehsender ABD. Weil der Bürgerkrieg die Regierungstruppen nicht so gut dastehen lässt, erhält ABD die Auflage, in seinen Nachrichten den Bürgerkrieg als Terrorwelle zu bezeichnen. Die Bilder in den ABD-Nachrichten sind die gleichen wie die in Ente-Vau, nur lauten die Begleittexte anders. Herr Ahrend, der jeden Abend auf ABD die Nachrichten sieht, hat eine neue Stelle in Herrn Fuchsbergers Firma erhalten.
Herr Ahrend hatte vor Jahren eine Reise in das Land X unternommen. Er kennt die Orte, die auf Bildern auftauchen und hat die Freundlichkeit der Bürger genossen. Als er nun seine neuen Kollegen von einem Bürgerkrieg reden hört, ist er ganz erstaunt. Stets bestens informiert, möchte er das Missverständnis aufklären. Er erzählt seinen Kollegen von der Fehlinformation und sagt ihnen, dass es nur eine Terrorwelle sei. Es kommt zum Streit. Doch weil Herr Ahrend das Land X mit eigenen Augen gesehen hatte, wird am Ende seine (bzw. ABDs) Sicht der Dinge geglaubt. Die Kollegen entscheiden sich, fortan Ente-Vau nicht mehr zu trauen und sehen alle Nachrichten nur noch kritisch.
Wer hat jetzt die wahre Information erhalten, wer nicht? Das ursprüngliche Weltbild der Kollegen beruhte auf den Meldungen eines bislang verlässlichen Senders. Eine Minderheit kann argumentativ die Verlässlichkeit hinterfragen und die Mehrheit von einer verfälschten Wahrheit überzeugen. Hier wurde eine Welt geschaffen, die zwar nicht physisch existent, doch aber die ideell-vorhandene Welt für Fuchsberger et al bildet.
Beispiel Zwei: Frau Rose ist geschieden. Nach ihrer Scheidung wuchsen ihre zwei Söhne alleine auf. Weil es gegen ihren Stolz ging, hat sie trotz prekärer Lage nie soziale Leistungen der Öffentlichkeit in Anspruch genommen. Statt dessen war sie ganztags arbeiten. Die Söhne waren seit dem Alter von vier und sieben Jahren nachmittags alleine zu Hause. Wenn Frau Rose von der Arbeit zurück kam, war sie müde. Müde hatte sie keine Lust zu kochen. Sie brachte Fastfood auf dem Heimweg mit. Der ältere Sohn glänzte in der Schule und schrieb gute Noten, der jüngere Sohn hatte seine Probleme, mogelte sich aber durch. Die einzige Zeit, die Frau Rose mit ihren Söhnen verbrachte, war vor dem Fernseher, wo sie, zur Erholung, bis 22 Uhr das ganze Programm durchsah.
Beide Söhne sind mittlerweile erwachsen. Der jüngere Sohn hat mit 16 das Gymnasium abgebrochen und eine Lehre begonnen. Seither verdient er sein eigenes Geld. Weil er sich von seiner Mutter im Stich gelassen fühlte, hat er den Kontakt abgebrochen. Der ältere Sohn hat ein sehr gutes Abitur geschrieben und studiert nun mithilfe eines Stipendiums. Im Gegensatz zu seinem Bruder hat er seine Mutter durchschaut und harte Worte des Vorwurfs stets vermieden. Er hält einen guten Kontakt, jedoch auf seine Kosten, indem er die Vorstellungen seiner Mutter nicht richtig stellt.
Frau Rose glaubt, sie hätte beide Söhne genau gleich erzogen. Sie fragt sich, wie es denn passieren konnte, dass der jüngere Sohn so undankbar sei. In ihrer Vorstellung hat sie ihre Söhne vor dem Vater und einer zerrütteten Familie gerettet. Sie war es, so glaubt sie, die beiden eine höhere Schulbildung als sich selbst ermöglicht habe. Als ihr irgendwann der ältere Sohn seine Sicht auf den Alltag aus Kindheit und Jugend berichtet, reagiert sie verletzt. Sie fühlt sich ungerechtfertigt mit falschen Vorwürfen konfrontiert. Aus der Sicht Frau Roses sieht der Ältere – wohl aus Eifersucht auf den bereits verdienenden Jüngeren – seine Kindheit nur noch in schwarzen Farben. Sie interpretiert seine (die eigene wahrgenommene Wahrheit darstellenden) Aussagen als spätpubertäres Verhalten und nimmt ihm fortan die „gemeinen Lügen“ übel.
Wer hat in diesem Fall nun recht? Ist Frau Rose tatsächlich zu Recht kritisiert worden? Das Beispiel zeigt eine Selbstlüge aus Schutz. Aus Angst, ihr eigenes Fehlverhalten oder Versagen einzugestehen, hat Frau Rose Fehler und negative Erfahrungen verdrängt. Es wird die Vergangenheit in einem idealisierten Licht gesehen. Anderen, die mit ihr Situationen be- und verarbeiten möchten, wird vorgeworfen, alles schwarz zu malen und negativ zu sehen. Die eigene Welt ist so stark konstruiert und der Mensch hat so sehr seine sehr subjektive Wahrheit mit der Wirklichkeit verwechselt, dass sein Gegenüber mit anderen Wahrheiten, möglicherweise nur minimal abweichenden Bewertungen gemeinsam erlebter Situationen, als feindselig erlebt wird.
So ist das spielerische Erschaffen einer Welt, wie es Pippi Langstrumpf besingt, eigentlich kein leichtes Thema. Täglich werden neue Welten geschaffen, täglich neue Wirklichkeiten konstruiert. Wir prallen mit unserer veränderten und beengten Weltsicht auf Mitmenschen mit ebenso veränderter und beengter Weltsicht. Auf dieser Basis wird Zusammenleben schwierig und eine Geschichte, die Geschehnisse erzählt, zur puren Märchenstunde. Jeder Mensch, ob er möchte oder nicht, erschafft sich seine Welt. Dessen sollte er sich klar sein. Wir sind Pippi Langstrumpf.
Uli in Philosophie am 13.02.2010 um 21.27 Uhr
Werkzeuge: |