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Der Blog des Goldseelchen-Verlags
Fenster vom 14. Dezember
Fortsetzung der Erzählung vom 13. Dezember.
Wo war die Wärme im winterkalten Weihnachtskerker? Coline blickte nach oben, die Lichter der Stadt vor sich. Mattdunkel war der Himmel. Frostig-abweisend wirkte er. Kahle Baumskelette fügten sich in eine ausgestorbene Kulisse aus schwachen Straßenlaternen und lustlos wartenden Haltestellenschildern. Warten – aber worauf? Wartete sie? Hoffte sie? Fühlte sie sich nicht eher noch leerer, seit sie aufgebrochen war von dem Zuhause, das nicht ihre Heimat war? Leer schien auch der Himmel. Verfälscht im künstlichen Licht, das die Nacht zum Tag machen wollte. Das Licht schaffte, den Sternenhimmel in ein gesichtsloses grauendes Ungeheuer zu verwandeln.
Mit stumpfem Blick steuerte eine junge Frau auf die Sitzbank zu. Wie alt würde sie wohl sein? Coline musterte sie. Kein Leuchten, kein Zucken, kein Lächeln. Würden die Lider nicht hin und wieder auf- und zugehen und nicht selten eine kalte Nebelwolke kaum merklich den Atem zeigen, hätte Coline sie für tot gehalten. Eine tote Seele, leblos neben ihr auf einer Haltestellenbank sitzend. Sie, Coline, war der Lebendigkeit auf der Spur. Sie hatte die Sternschnuppe gesehen.
Coline rutschte ein Stück weiter nach links, näher zur Frau. Keine Reaktion. Nur der leere, stumpfe Blick. Als habe sie jemand in ein Foto gesetzt. Wäre sie, Coline, die Fotografin gewesen, hätte sie die Kulisse anders arrangiert. Sie hätte die grässliche Lichtverschmutzung vom Horizont genommen. Sie hätte die Sterne dem schwarzen Himmel zurückgegeben. Und sie hätte Baumskelette und wartende Schilder durch schneebehängte Nadelbäume getauscht.
Weihnachtswald in Märchenwelt: Coline merkte nicht, wie die Frau aufgestanden und mit dem nächsten Bus abgefahren war. Coline hatte sich in den Wald geträumt, der nun unter Schneien immer dichter wurde. Schneeflocke für Schneeflocke kam Weihnachtstanne um Weihnachtstanne. Traumversunken stand das Mädchen auf, seinen Rucksack auf dem Rücken, doch leicht ums Herz in der Finsternis.
Sie tapste in den frisch gefallenen Schnee, der Boden und Bäume bedeckte. Deutlich hinterließ ihr Schuh den Abdruck. Den Stern der Marke zwischen den Profilrillen. Ein weiterer Schritt brachte wieder einen Abdruck hervor. Und wie leicht der Neuschnee knirschte. Das Geräusch war ganz schwach. Mehr schluckte es Ton, als dass es zu hören war. Kindesgleich freute sich Coline über die weißverzauberte Weihnachtswelt des Traumes. Doch es war kein Traum: Die ganze Umgebung war in Weiß getaucht, dichter Flockentanz verdeckte das Licht der Stadt. Genausogut hätte sie am Waldrand stehen können.
Vorsichtig streckte sie ihre Hand aus. Drei-vier Schneeflocken ließen sich auf der bleichen Haut nieder. Coline zog die Hand zu sich und blickte den weißen Sternen zu, wie sie schnell kleiner wurden und nasskalte Wassertröpfchen auf der glatten Fläche bildeten.
Staunend und nur vorsichtig auftretend schritt sie vorwärts. Auf ihrem Scheitel hatte sich ein kleiner Flockenkranz gebildet, der langsam das Haar nässte. Die Schultern hatten weiße Polster; mit jedem Schritt rutschte ein Schneeklumpchen herunter.
Coline blickte zurück: Nur ihre Spuren waren sichtbar. Nach hinten hin wurde es unmöglich, ihren Weg abzulesen. Es war, als käme sie aus dem Nichts, hineingesetzt in eine schneiende Welt.
Uli Fries, 2009