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Der Blog des Goldseelchen-Verlags
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Fenster vom 13. Dezember

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Sterntälern

Sterntälern. Teil 1

Das erste Lächeln des Winters, das Coline bewusst erlebte, gelang zeitgleich mit der eintreffenden Freiheit. Frei war sie. Frei für sich, ohne Last, ohne Überwachung, ohne beobachtende Augen. Das Lächeln huschte über ihr Gesicht und entfachte das Strahlen, das ihr diese letzten Tage des Dezembers beiblieb. Doch an dieses Strahlen konnte ich mich nicht erinnern, denn ich kannte Coline nur vor der großen Freiheit, wie sie sie nannte.

Wenn man am Südbahnhof die Busse verlässt, blickt man über die einsamen Wartehäuschen hinweg. Dahinter erhebt sich schweigend das aufgelassene Fabrikgebäude. Die letzten Straßenlichter erhellen nur spärlich die Haltestelle. Wer aufmerksam durch die Welt geht, kann hier ein Stück vom Sternenhimmel sehen. Das einzige Stück, wenn man die Straßen nicht verlassen möchte. Kommt man in den frühen Abendstunden an, sieht man links unten einen ganz hellen Stern stehen. Ein bisschen nach rechts oben bildet sich ein Dreieck aus weiteren, etwas weniger hellen Sternen.

Coline ging stets aufmerksam durch die Welt. Sie war empfindsam für die Stimmungen anderer. Sie konnte sich in Trauernde hineinversetzen. Schnell schuf sie mit wenigen Worten oder Gesten Trost für Andere. Trost für sich konnte und wollte sie nicht finden. Obwohl sie ihn suchte: Einmal hatte sie über ihren Glauben erzählt. Viel drang nicht heraus, aus ihren schmalen Lippen, die sie meist eng geschlossen hielt. Verschlossen aus Furcht, es könnte zu viel der Welt in sie hineindringen, so schien es. Der Glaube Colines war so ganz anders als der meine. Sie glaubte anderes, als die meisten Menschen um sie her. Und doch hat, so glaube ich, ein jeder in seinem Glauben Teile dessen, woraus die Welt Colines bestand.

Einen Gott gab es in dieser Welt nicht. Es gab Mächte, die uns am Leben hielten und nach Gutdünken dabei quälten oder unterstützten. Man konnte die Mächte rufen, sie beschwören. Dabei würde man sich aber immer in deren Bann ziehen. Mich, glaube ich, hatte sie auch in einen Bann gezogen. Deswegen wollte ich ihr auch so viel zuhören. Gebannt hörte ich von ihrer Welt und davon, dass selbst dort, wo Coline doch so feinfühlig für das Kleinste und das Wesentliche war, das Geld regierte. Wer wohl hatte es heraufbeschworen? Jedenfalls wusste auch Coline, dass ohne Geld nichts ging. Jedoch ging mit Geld auch nicht mehr. Und so war ihr egal, dass ihre Eltern als Bestrafungen das nicht vorhandene Taschengeld kürzten. Dem zum Trotz vertraute Coline auf die Macht des Guten. So führte sie mir irgendwann stolz ihre Gitarre vor. Ihre eigene Gitarre, neu und für sie ausgesucht; mit Geld gekauft. Nun stand das Instrument in einem Zimmer, das sie bewohnt hatte. Coline war nur mit einem Rucksack aufgebrochen.

Zwischen dem ganz hellen Stern, der links unten steht und der Dreiergruppe rechts davon, da sah sie zum ersten Mal eine: eine Sternschnuppe. Die erste Sternschnuppe ihres Lebens. Lang atmete Coline aus. Wie ein lichtschnelles Flugzeug, ein aufleuchtender Scheinwerferstrahl, ein schwacher Blitz in weiter Ferne: So sah sie aus, diese erste Sternschnuppe. Alle Wahrheit der Welt schien in diesem winzigen Lichtschein vereinigt. Coline fühlte sich, als wäre dieses Sternschnuppenleuchten direkt auf sie übergegangen.

Glücklich, befreit, erhellt stieg sie lächelnd aus dem Bus am Südbahnhof und setzte sich in der Winterkälte ins Bushäuschen. Dort aber wollte sie nicht allzu lange verharren, denn schon zwickte die Kälte in ihre Beine. Dünne Haut kann auch keine Jeans wärmen.

Sie war nicht zum Herumlungern davongelaufen. Sie war eigentlich überhaupt nicht davongelaufen: Aufgebrochen war sie – in der Suche – auf den Weg nach dem Sinn der Welt. Und dem Sinn von Weihnachten. Sie wollte die Liebe sehen, von der immer alle sprachen. Sie wollte verstehen, was Leben wirklich meint.

Weihnachten hatte Coline nie als Fest der Liebe verstanden. Den Eltern war sie in ihrer Feinfühligkeit bald zu anstrengend und zu schwierig geworden. Coline lebte stets mit dem Gedanken, nicht gut genug zu sein. Sie dachte, alles falsch zu machen.

War sie stolz auf etwas, das sie erreicht hatte, hätte es besser ausfallen können. Gab sie sich besonders große Mühe, war sie bereit, ihren Eltern für die ablehnende Haltung zu verzeihen, stieß sie auf kaltes Schweigen. Sie rannte gegen Mauern, wo offene Türen hätten sein mögen. Die Welt wollte sie nicht verstehen. Nun wollte sie die Welt verstehen. Diese Welt verstehen, in die sie so wenig passte. Der Ort, der nicht ihrer war. Diese letzte Chance wollte sie ihr geben, wollte sie ihnen geben. Ich, Coline, habe die Welt verstanden. Diesen Satz hätte sie so gerne einmal sagen wollen. Nur für sich. Ganz leise.

Der zweite Teil der Geschichte folgt morgen.