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Der Blog des Goldseelchen-Verlags
Unmoral genießt keinen Bestandschutz
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Was das mit Geschlechterungerechtigkeit zu tun hat, zeigt die Gegenprobe: Für Mädchen, die regelwidriges Verhalten an den Tag legen, kenne ich kein positives Alltagswort, geschweige denn, dass es entsprechende Oktoberfeststrampler gebe. Gebräuchlich ist die männliche Grenzüberschreitung, nicht die weibliche. Gebräuchlich ist es, diese männliche Grenzüberschreitung augenzwinkernd abzutun und im Eigentlichen doch zu bestätigen.
Die CDU-Logik nach Nopper, dessen Äußerungen hier nur exemplarisch für eine Art zu Argumentieren stehen, lässt sich so analysieren: Brauch verweist auf eine Sitte, die schon sehr viel länger besteht als unsere heutigen Moralansichten. Bräuche zu pflegen, bedeutet damit, diesen überholten Sitten in Art des Bestandsschutzes einen Raum zu bieten.
Ich muss an eine winzige Villa in Stuttgart denken. Sie wurde 1924 errichtet. Sie steht im heutigen Gartenbauland. Gartenbauland bedeutet, dass hier keine neuen Wohngebäude errichtet werden dürfen. Die kleine Villa hat Bestandsschutz. Man kann sie zwar abreißen, aber man darf nicht an selber Stelle ein neues Wohnhaus errichten. Man darf sie auch nicht erweitern, weshalb sie schon allein mit ihren bescheidenen zweieinhalb Zimmern und der Ölheizung ziemlich aus der Zeit gefallen scheint.
Was hat die winzige Villa mit Brauchtum und Moral zu tun? Aus ethischer Perspektive ist zu fragen, ob unmoralisches Verhalten gleich der Villa einen Bestandsschutz genießt. Nur wenn das bejaht wird, ist die Argumentation nach Nopper und anderen schlüssig. Das aber würde bedeuten: Wir als Gesellschaft haben eine Rechtsgeschichte, in die über die letzten Jahrzehnte Errungenschaften aus Zivilisation und Gleichberechtigung eingegangen sind. Und gleichzeitig kultivieren wir rechts- und moralfreie Räume unter dem Label des „Brauchtums“, in denen wir Regelbrüche honorieren statt ahnden.
Gegen Geselligkeit ist nichts einzuwenden, auch nichts gegen Trachten und Umzüge, Liedgut und Nostalgie. Es gibt allerdings zum Beispiel klare ethische und auch rechtliche Positionen dazu, welche Lieder ausgedient haben und nicht mehr gesungen werden sollen. Wir messen mit dem Maß von heute und dem Wissen, das uns die Geschichte gelehrt hat. So unterscheiden wir als Gesellschaft, welche Traditionen und Brauchtümer wir pflegen; und stärken auf diese Weise auch die aktuelle Rechtsauffassung.
Als Ethikerin vertrete ich die Position: Rechtswidrigkeit ist kein schützenswertes Kulturgut. Unmoral genießt keinen Bestandsschutz. Die Grundrechte unserer Verfassung dagegen schon. Sie sind ebenfalls Jahrzehnte alt. Allen voran halten sie die Unantastbarkeit der „Würde“ aller fest. Dazu kommen, auch in Artikel 1, „Gemeinschaft“, „Frieden“ und „Gerechtigkeit“: großartige Begriffe, die in Brauchtum gelebt werden können. Heute dringender denn je.
sophie in Gesellschaft am 03.10.2025 um 12.29 Uhr
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