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Der Blog des Goldseelchen-Verlags
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Wie Sprache Täterinnen und Täter versteckt

Das große Passiv


Es ist typisch deutsch und es ist ganz schön mächtig: das große Passiv.

„Fressen“ oder „gefressen werden“

In der Grammatik ist das Passiv das Gegenteil von Aktiv. Es ist sprachlich die (Er-)Leidensform, während das Aktiv die Akteurinnen und Akteure einer Handlung benennt. „Fressen oder gefressen werden“ ist eine Wendung, die die aktive und passive Seite einer Handlung sprechend ins Bild fasst. Wenn ich beispielsweise beobachte, dass ein Vogel einen Wurm frisst, dann habe ich grundlegend zwei Möglichkeiten diesen Vorgang zu beschreiben:

a) Der Vogel frisst (den Wurm).

b) Der Wurm wird (von dem Vogel) gefressen.

Obwohl beide Aussagen wahrheitsgemäß den Vorgang sprachlich wiedergeben, kann jeweils ein Teil der Information einfach verloren gehen, ohne dass ein unkorrekter Satz oder eine unwahre Aussage übrigbleibt. Es ist nicht die ganze Wahrheit, wenn ich in Variante b) „von dem Vogel“ weglasse, aber die Weglassung führt weder zu einer inkorrekten noch zu einer unwahren Aussage. Wer Akteur des Fressens ist, fällt schlicht unter den Tisch: Der leidende Wurm wird erwähnt, der fressende Vogel dagegen nicht. Man kann auch sagen, der Fokus liegt auf dem Opfer, ohne dass gesagt würde, wer das Opfer zum Opfer macht. Denkbar ist auch noch eine dritte Variante:

c) Jemand frisst den Wurm.

Auch diese Aussage ist vollkommen korrekt, allerdings ist auch hier vollkommen unklar, wer dieser „Jemand“ (oder auch „man“) ist. Hier handelt es sich um eine aktiv formulierte Variante, die trotzdem keine Information über die konkrete Akteurschaft gibt.

Behördenkorrekte Distanz

Dann gibt es noch eine besonders kunstvolle Version im Deutschen, um den Vorgang zu beschreiben. Sie gibt sich sachlich und man wird sie zwar nicht in der Alltagssprache, durchaus jedoch in einem behördlichen Kontext finden. Hier wird weder der Vogel benannt noch der Wurm betont, sondern frei jeder Emotion der substantivierte Vorgang, das Verb, selbst fokussiert:

d) Es kommt / kam zum Fressen eines Wurms.

Im Polizeibericht kann diese Formulierung dann bewusste Wahl sein, wenn man tatsächlich nicht weiß, wer Akteur des Fressens war, zum Beispiel weil der Vogel sich vom Tatort entfernt hat, ehe man die Hinterlassenschaften aufgefunden hat. Mittel der Wahl kann die Satz-Konstruktion d) auch dann sein, wenn die Berichterstattenden aus juristischen Gründen die Vorverurteilung des mutmaßlichen Täters sprachlich vermeiden wollen.

Typisch deutsch: Handlungen ohne Täterinnen und Täter

„Passivkonstruktionen sind typisch deutsch“, hat ein Kollege mal zu mir gesagt, für den Deutsch nicht die Muttersprache ist. Damit hat er vollkommen Recht. Die Deutschsprechenden scheinen geradezu verliebt in Konstruktionen zu sein, die zwar Handlungen, aber keine Täterinnen und Täter der Handlungen kennen. Das Englische funktioniert da anders. Sätze sind im Englischen nicht nur in der Regel kürzer, sondern in der Regel aktiv konstruiert. Auch in anderen nah verwandten indogermanischen Sprachen kann man das sehen. Deutsch scheint in seiner sprachlichen Familie einen eigenen – passiven – Weg zu gehen.

Worte bilden Wirklichkeit (ab)

Mich interessiert weniger die Grammatik. Mich interessiert, was mit Sprache transportiert oder eben auch nicht transportiert wird. Sprache fasst in den obigen Beispielen die Wirklichkeit einer Handlung in Worte. Wenn sie dazu unterschiedliche Worte benutzt, dann gibt sie eben auch unterschiedliche Bilder von Wirklichkeit ab.

Das ist deshalb relevant, weil die deutsche Sprache so strukturiert ist, dass Täterinnen und Täter sich ganz einfach hinter ihr verstecken können. Oder auch: dass Täterinnen und Täter ganz einfach hinter Sprache versteckt werden können. Gerade die seriöse Berichterstattung kann durch Passiv-Konstruktionen völlig korrekte und wahre Aussagen treffen, ohne Täterinnen und Täter zu benennen. Man kann auch öffentlich Opfern gedenken, ohne dass man Täterschaft thematisieren müsste. In der Wirklichkeit der Sprache werden Opfer damit als Opfer anerkannt, ohne dass es Täterinnen und Täter gibt. Unbequeme Wahrheiten können auf diese Weise einfach weggelassen und unausgesprochen bleiben. Dass es Opfer gibt ist dann eher so ein beklagenswerter Gesamt-Missstand, für den – sprachlich betrachtet – nicht unbedingt jemand was kann: bedauernswert, aber weniger Folge einer aktiven Tat als mehr ein schicksalhaft erlittenes Übel. Aus Taten werden Geschehnisse.

Das deutsche Passiv prägt einen Sprachraum, der es – sprachlich betrachtet – besonders leicht macht, niemanden für Taten zur Verantwortung zu ziehen.

Erinnerungskultur auf Deutsch

Das wird deutlich, wenn ich abschließend aus einer Schrift zitiere, die sich mit dem jüdischen Leben in Deutschland während der Nazi-Diktatur beschäftigt, ein Teil deutscher Erinnerungskultur:

  • „Antijüdische Demonstrationen und Versammlungen wurden veranstaltet.“
  • „1938 wurde die Synagoge in Brand gesteckt.“
  • „Ab Sommer 1938 wurden alle jüdischen Geschäfte und Betriebe registriert und bis Anfang 1939 ‚arisiert‘, d.h. mit deutschstämmigen Leitern versehen und den jüdischen Inhabern alle Leitungsrechte entzogen.“
  • „Allen jüdischen Bürgern wurde ihre Heimat und ihr Eigentum genommen.“
  • „Wer bis dahin noch nicht gewichen war, wurde deportiert.“
  • „An einigen Grabsteinen sind Inschriften angebracht, die an Angehörige erinnern, die in Lagern der NS-Zeit zu Tode gebracht worden sind.“

sophie in Gesellschaft am 22.09.2024 um 14.06 Uhr

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