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Der Blog des Goldseelchen-Verlags
Wincent Weiss glaubt an Wunder
„Ey, es wähähähär schön blöd, nicht an Wunder zu glauben“, singt Wincent Weiss in seinem Lied „An Wunder“ voller Überzeugung aus dem Radio. Das „hähähä“ greift natürlich musikalisch dem kollektiven „ohohoho“ im Refrain vor und wenn die Massen „ohohoho“ zusammen singen, dann stehen die Chancen auf einen WM-Hit bekanntlich gut.
Der religiös Interessierte hört da freilich noch mehr – nicht nur, weil er als politisch nicht Uninteressierter von einer WM in Russland dieser Tage sowieso nicht viel hält. „Es wär schön blöd, nicht an Wunder zu glauben“? Ja, das ist doch mal ein Statement in nachaufgeklärter Welt, wo alles, was eben nicht rational nachgewiesen werden kann, als Humbug abgestempelt wird. An manchen Stellen hält er dann aber doch noch vehement seinen Posten, der Zauber der Romantik: in der Musik oder im Gemeinschaftsgefühl eines Fußballfiebers oder im Traum vom modernen Prinzessinnenleben als Influencer-Star. Schließlich hüpfen im Weiss’schen Video-Clip Mädchen der jüngst abgeschlossenen GNTM-Staffel herum. Ob sie wohl auch an Wunder glauben?
Ich gebe den Spielverderber und singe nicht laut „ohohoho“ mit, sondern frage nach der Struktur dessen, was Weiss da singt. Bestimmt gibt es auch wieder zahlreiche Lehrer, die den Titel „An Wunder“ zum Anlass nehmen, ihre Wundereinheit im Religionsunterricht etwas aufzupeppen und mit aller Gewalt versuchen, Wincent Weiss und Petrus auf dem Wasser irgendwie ins gleiche Boot zu setzen (so wie damals beim Hit „Wunder“ der HipHop-Band „Die Firma“). Aber das versuche ich nun gerade nicht.
Nimmt man Weiss ernst, dann ist also „ey blöd“, wer nicht an Wunder glaubt, denn – so weiter im Text des aktuellen Hitanwärters – „es wär zu schön, um es nicht zu riskieren“. Was heißt das denn?
Das heißt, es gibt eine Alternative: Möglichkeit A) Es gibt Wunder. Möglichkeit B) Es gibt keine Wunder. A) nennt man dann gemeinhin gerne Optimismus, B) Realismus – zumindest vom Standpunkt der rational entzauberten Welt aus, deren Dogma zu lauten scheint, dass es nichts rational Unerklärbares geben darf (siehe oben). Wincent Weiss macht nun folgendes (ob er das absichtlich macht, sei dahingestellt) – besser gesagt, er macht folgendes nicht: Er macht keine Aussage darüber, ob es Wunder gibt oder nicht.
Seine Alternative ist also eine andere: Möglichkeit A‘) Ich glaube / rechne mit / hoffe auf Wunder. Möglichkeit B‘) Ich glaube nicht / rechne nicht mit / hoffe nicht auf Wunder. Und vor dieser Alternative stehend überlegt er sich (ob er das wirklich tut, sei dahingestellt), wovon er jetzt im Leben mehr hat: von Standpunkt A‘) oder von Standpunkt B‘). Und da bezieht er folgende Überlegung mit ein (wenn er es denn absichtlich tut): Zusatzkomponente X: Wunder sind schön.
In Kombination mit Zusatzkomponente X ergibt sich dann: „Ey, es wähähähär schön blöd, nicht an Wunder zu glauben“.
Und jetzt gehe ich etwas über Wincent Weiss hinaus (ob jetzt erst, darf die Leserschaft beurteilen). Es ergibt sich nämlich das Bild einer Wette mit zwei Setzmöglichkeiten. Die Wette lautet darauf, ob man mit Wundern rechnet und man muss sich entscheiden, ob man dafür oder dagegen setzt. Rein aus dem Gesichtspunkt der Vernunft betrachtet, kann für keine Möglichkeit rational argumentiert werden. Trotzdem soll gewählt werden. Dabei geht es dann einerseits um Wahrheit (wer hat Recht?) und einen möglichen Zugewinn des Schönen (denn Wunder tragen die Qualität „schön“), andererseits um Unwahrheit und das Ausbleiben eines Schönen. Setzt man auf JA und es gibt Wunder wirklich, dann hat man doppelt gewonnen, denn man liegt richtig (Wahrheit). Darüber hinaus aber tragen Wunder die Qualität „schön“ und bereichern das Leben. Gibt es sie nicht, hat man zwar das Recht verloren. Man muss aber auf nichts verzichten, auf das man nicht sowieso verzichten müsste (weil Wunder gibt es nicht). Setzt man hingegen auf NEIN und es gibt Wunder nicht, dann hat man zwar Recht, aber davon hat man nicht viel, weil es auch den Zugewinn des Schönen nicht gibt. Gibt es Wunder hingegen trotzdem und man hat auf NEIN gesetzt, liegt man nicht nur falsch, sondern verzichtet auch noch auf etwas Schönes, das man eigentlich haben könnte. Man verliert also doppelt. So gibt es also nur eine Möglichkeit, die die Chance birgt, doppelt zu gewinnen, nämlich mit Wundern zu rechnen. Und das besingt Weiss, wenn er sinngemäß sagt, dass doch jeder blöd wäre, der anders wettet.
Noch spannender wird die Sache natürlich, wenn man sich nicht nur die Zeitspanne eines Lebens ansieht und über Wunder nachdenkt, sondern – ja, über die Frage, ob es Gott gibt.
Und da bin ich nun nicht mehr bei Wincent Weiss, sondern bei Blaise Pascal, jenem großen Mathematiker und Philosophen des 17. Jahrhunderts, dem Generationen von Glaubenden das Gedankenspiel „Die Wette“ verdanken. Strukturell habe ich ihm längst vorgegriffen. Und deshalb ist natürlich auch das Ergebnis jetzt schon klar: „Ey, es wär schön blöd, nicht an Gott zu glauben.“ – bzw. in den ehrwürdigen Worten Pascals (jedoch in deutscher Übersetzung von 1840):
„Ihr sagt also, daß wir unfähig sind zu erkennen, ob es einen Gott giebt. Indessen es ist gewiß, daß Gott ist oder daß er nicht ist, es gibt kein Drittes. Aber nach welcher Seite werden wir uns neigen? Die Vernunft, sagt ihr, kann aber nichts entscheiden. […]Ja, aber es muß gewettet werden, das ist nicht freiwillig, ihr seid einmal im Spiel und nicht wetten, daß Gott ist, heißt wetten, daß er nicht ist. Was wollt ihr also wählen? Laßt uns erwägen: was euch am Wenigsten werth ist. Ihr habt zwei Dinge zu verlieren, die Wahrheit und das Glück und zwei Dinge zu gewinnen, eure Vernunft und euern Willen, eure Erkenntniß und eure Seligkeit, und zwei Dinge hat eure Natur zu fliehen, den Irrthum und das Elend. Wette denn, daß er ist, ohne dich lange zu besinnen, deine Vernunft wird nicht mehr verletzt, wenn du das eine als wenn du das andre wählst, weil nun doch durchaus gewählt werden muß. Hiemit ist ein Punkt erledigt. Aber eure Seligkeit? Wir wollen Gewinn und Verlust abwägen, setze du aufs Glauben, wenn du gewinnst, gewinnst du alles, wenn du verlierst, verlierst du nichts. Glaube also, wenn du kannst.“
(Blaise Pascal, Gedanken über die Religion, übersetzt von Karl Adolf Blech, 1. überarbeitete Auflage, Berlin 2016, 126f)
sophie in Philosophie am 31.05.2018 um 18.13 Uhr
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