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Der Blog des Goldseelchen-Verlags
Wie ein einfacher Flugzettel den Sinn der Sprache verwirrt
Missstände sind weit verbreitete Bestandteile unserer Gesellschaft. Die meisten werden nicht als Fehler wahrgenommen, sondern mit undurchdachtem Verhalten unterstützt. Wer aufklärt, kann schon auch mal neue Missstände erzeugen...
Der Missstand: Flüchtlinge werden ausgegrenzt
Ein gewaltiger Fehler ist die Ausgrenzung von Menschen. Ausgegrenzt werden nicht diejenigen, die in Deutschland geboren sind. Ausgegrenzt werden bei uns Menschen zweiter Klasse, Menschen, die ihre Heimat aus gewichtigen Gründen verlassen haben, ihre gesamte aufgebaute Existenz aufgegeben haben, um nach Deutschland zu kommen. Das Grundgesetz verbietet, sie als Menschen zweiter Klasse zu behandeln. Das hindert aber niemanden daran, Diskriminierungen als Wohltätigkeiten darzustellen.
In Tübingen wehrt sich ein Aktionskreis gegen „Sachleistungen“ an Flüchtlinge in der „Sammelunterkunft“. Das Gesetz stellt nämlich frei, ob Asylbewerbern – die ein Jahr lang Arbeits-Verbot haben – Geld gegeben wird, damit sie sich Essen, Kleidung und Hygieneartikel kaufen können. Alternativ können sie „Sachleistungen“ erhalten, d.h., der Landkreis Tübingen bezahlt mit viel Geld eine Firma, die zum Teil mangelhafte Ware an die Asylbewerber-Lager verteilt. Logistisch ist das sehr aufwändig, die zusätzlichen LKW-Fahrten pusten Abgase in die Luft. Die Menschen in ihren Lagern sind abhängig von vorgefertigten Lebensmittel-Listen, hundert Bestell-Punkten für zwei Tage und der Hoffnung, dass in der nächsten „Essenskiste“ nicht wieder unbrauchbare Ersatzware ankommt. Einkaufen wird damit verhindert, die Flüchtlinge bleiben für die Gesellschaft weitgehend unsichtbar. Kurzum: Sie werden ausgegrenzt.
Ein Motto gegen den Missstand
Also sagt die Aktionsgruppe: „Essenskisten weg!“ Während der Vorlesungszeiten an der Uni findet einmal monatlich eine Informationsveranstaltung an verschiedenen Orten statt. Den Flüchtlingen werden Essenskisten abgekauft, ein Essen wird gekocht und gegen Spende bei den Veranstaltungen serviert. Um möglichst viele Gäste einzuladen, wird mit Flugzetteln auf die Termine aufmerksam gemacht.
Auf Missstände aufmerksam machen ist der erste Schritt. Im Aufmerksam-Machen wird bereits eine Ablehnung deutlich. Etliche Missstände sollten ersatzlos gestrichen werden. Wie will man das anders ausdrücken, als mit einem deutlichen „KEIN“?
Als Motto beliebt sind dreigliedrige Aussagen, so genannte Trikola. Der Wahlspruch Deutschlands z.B. – sehr unpassend an dieser Stelle – ist auch solch ein Trikolon: „Einigkeit und Recht und Freiheit“. Das Motto für das „Essenskisten-Essen“ im November packt die Aussage in eine dreigliedrige Ablehnung: „Keine Abschiebung, keine Essenskisten, ohne uns!“, da neben den Sachleistungen auch Abschiebehaft angeprangert werden soll.
Der Missstand wird missverstanden
Bei der grafischen Umsetzung des Mottos wurde schlagartig deutlich, wie schwierig verneinte Sätze sind. In schunkelndem Rhythmus des Dreitakts erhielten die ersten Punkte ihr klassisches Verbotsschild – keine Abschiebung, keine Essenskisten, keine... Plötzlich hält der Grafiker inne und fühlt sich ein bisschen wie beim Hören einer alten Otto-Waalkes-Platte. Die Macht der Gleichmäßigkeit dient dazu, den Sinn unauffällig auszuhebeln: „Nee, nicht ‚Keine Macht den Drogen’! Das war letztes Jahr. Diesmal geht es um einen Missstand in der Küche: Keine macht den Abwasch.“ Leider ist weder Otto lustig, noch sind es die Essenskisten.
Was in der Sprache sämtliche Aussagen verneint, das „aber“, ist unter den Zeichen das Verbotszeichen mit dem Strich hindurch. Es ist das Negative schlechthin. Darum läge es nahe, bei einem Dagegen dieses Negative zu zerstören. Man wehrt sich ja gegen etwas, wenn man „Ohne uns“ sagt.
Und schon ist das Missverständnis geboren. Die Verneinung ist zu regelmäßig, der Sprachrhythmus hat ein „ohne uns“ dorthin gestellt, wo ein „das wollen wir“ vom Sinn her gefordert wäre. Es sind die Demonstranten, die nun das Dagegen, das Verbot, fordern. Logisch wäre es, dieses Verbotsschild dem „Wir“ in die Hand zu drücken.
Fertig – ab zu Druck. Doch, halt! Wer das Flugblatt nun erhält und nicht genau liest oder ansieht, käme auf die absurde Idee, Demonstrationen sollten verboten werden. Oder gar, man sei folglich für Abschiebung und für Essenskisten. Um das zu verhindern, beschließt man, sich deutlich auszurücken: „Nicht mit uns“ soll, so der Beschluss, die gewünschte Klarheit schaffen. Der Grafiker darf nachbessern: „Der Balken soll weg“. Nun ist die Sinn-Suche wieder am Anfang und der Grafiker am Ende. Zwei Vorschläge bleiben, die mit ihrer Aussage nur noch eines verdeutlichen. Wenn man einen Missstand beseitigen möchte, dann sollte man sich besser – zumindest sprachlich – ausschließlich für einen Ersatz einsetzen.
Uli in Gesellschaft am 21.11.2011 um 12.40 Uhr
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