Zur Startseite Eck.Dose

Der Blog des Goldseelchen-Verlags
für Tagfalter und Nachtdenker

Der Blog des Goldseelchen-Verlags

Wahrer Mut ist geblümt

Löwenherzchen


Drei Kinder sind es, zwei Mädchen und ein Junge, die morgens schon lange im Klassenzimmer warten, wenn ich um zehn Minuten vor acht ankomme. Es ist eine Grundschule, vierte Klasse, die einen Hospitationsplatz angeboten hatte. Einmal die Woche dabei sein. Zusehen, welche Themen den Schülern liegen. Und feststellen, für welche Lerninhalte die Entwicklung noch ein paar Jahre braucht.

Auf das Dreiergespann stieß ich als erstes, als ich selbst eine Stunde halten sollte. Sie hatten ihren Gruppentisch von Stühlen befreit. Ein Sammelbilder-Stickeralbum lag darauf, um WWF-Tierfotos zu sammeln. Die gibt es beim Rewe, wird sachkundig erklärt. Dann kommt die lästige Sache mit den Namen. Wer einen ordentlichen Unterricht leiten möchte, sollte alle Schüler beim Namen ansprechen können. Vor mir steht jetzt der hyperaktive Jannik und wirft einen Softball gegen die Wand. Halb auf dem Tisch liegt die rothaarige Lara und zeigt auf den Pandabären im Stickeralbum.

Und das Mädchen links? Irgendwie ging die letzten Wochen ihr Name an mir vorbei. Ein hübsches Gesicht hat sie, Sommersprossen und Stupsnase. Die dunkelbraunen Löckchen kringeln sich bis zu den Schultern. Heute trägt sie eine luftige Dreiviertelhose und eine geblümte Bluse.

Vorsichtshalber habe ich ein Krepp-Klebeband mitgenommen. Darauf darf jedes Kind gut leserlich schreiben, wie es heißt. „Hier habe ich ein Klebeband. Schreibt bitte darauf eure Namen und klebt es irgendwo auf euer Hemd oder so.“ – „Warum denn?“ – „Damit ich euch heute mit Namen ansprechen kann.“ – „Weißt du denn nicht, wie wir heißen?“ – „Leider habe ich nicht bei allen den Namen mitbekommen.“

Ich wende mich an Mädchen Nummer Zwei mit den braunen Locken, die sich links an den Tisch lehnt. „Bei dir weiß ich zum Beispiel nicht, wie du heißt.“

Sofort fallen Jannik und Lara ein: „... heißt Richard.“

Haha. Die Kinderchen. Wollen mich verärmeln. Ein Probeblick in die Runde lässt mich souverän reagieren. „Du heißt doch nicht Richard.“

„Doch“, antwortet das Mädchen mit den braunen Locken in ihrer ruhigen Stimme, die deutlich höher klingt als die Stimme der rothaarigen Lara. „Ich heiße Richard.“

„Aber doch nicht mit Vornamen!?“, will ich entsetzt wissen. Wie können denn Eltern ihre Tochter Richard nennen?

„Do-hoch. Der heißt Richard.“, pflichten Jannik und Lara bei. Jannik baut sich vor mir auf und fragt bohrend: „Wieso glaubst du ihm nicht, dass er Richard heißt.“

Wie erklärt man, ohne das eigene und Richards Ansehen zu verletzen, ohne Salz in eine möglicherweise blutende Wunde zu streuen, dass man Richard nach wie vor für ein Mädchen hält? Ich entscheide mich für den leichteren Weg der Lüge. „Naja, so heißen doch heute ganz selten Kinder. Der Name ist doch nicht so häufig!“

Leicht verunsichert blickt Richard wieder in ihr Stickeralbum. Skeptisch nimmt Jannik das Klebeband und lässt sich von Lara einen Stift geben. „Schreibst du mir auch ein Schild“, bittet Richard mit der ruhigen, hohen Stimme Lara.

Angesprochen, ob „Richard ein Mädchen oder ein Junge“ sei, erklärt mir die Lehrerin der Klasse, dass das Kind „eigentlich ein Junge“ sei. Aber „Er sagt von sich selbst: Ich bin wie ein Mädchen.“ In der ersten und zweiten Klasse sei er häufig im Kleidchen gekommen. Seine Interessen, das konnte ich selbst beobachten, entsprechen denen seiner Mitschülerinnen. In der Gruppenarbeit sitzt er während meiner Unterrichtsstunde nur mit Mädchen am Tisch. „Er ist voll integriert. Die anderen Kinder akzeptieren ihn so, er ist sogar sehr beliebt.“ Seine Geschwister seien auch schon an der Schule gewesen. Die Brüder seien gerade das Gegenteil, nicht ruhig, sondern wild, total auf Sport ausgerichtet.

Ist Richard nun ein Mädchen oder ein Junge? Wenn ein Kind Lara heißt, Sticker sammelt, lange Haare hat und in der Pause Seil springen geht, dann ist es ein Mädchen. Zweifellos. Wenn ein Kind Jannik heißt, kurze Haare hat, einen Softball durch die Klasse kickt und in der Pause seine Mitschüler beim Tischfußball abzockt, dann ist es ein Junge. Zweifellos. Wenn ein Kind Richard heißt, Sticker sammelt, lange Haare hat und in der Pause länger fehlerfrei Seil springt als Lara, dann zweifeln wir.

Zweifeln – weil wir Richard für ein Mädchen gehalten haben? Bis plötzlich der Name das Kind in eine Schublade geschoben hat, in die es so gar nicht hinein passt? Oder zweifeln, weil ein Kind, das „eigentlich ein Junge“ ist, sich verhält und offenbar fühlt wie ein Mädchen?

Noch, in der vierten Klasse, ist der Unterschied kaum erkennbar. Die Haarlänge hilft anderen, in die Geschlechtsschublade zu sortieren. Spätestens bei den Interessen könnte eindeutig geordnet werden. Allerspätestens, wenn das Kind erklärt: „ich bin ein Junge“ oder „ich bin ein Mädchen“. Unmöglich ist das Einordnen, wenn dem Kind gerecht werden soll.

Später kommen dennoch unweigerlich die Fragen des Sortierens. Was tun die Eltern? Was tut das Kind? Abwarten, bis der Stimmbruch den ruhigen Richard zum Bariton verwandelt? Oder Östrogene geben, damit der Stimmbruch anders verläuft? Abwarten, bis sich „das“ mit der Pubertät „legt“?

In meinem Kopf singt Lou Reed vor sich hin:

„Holly came from Miami, F-L-A. Hitchhiked her way across the USA. Plucked her eyebrows on the way, shaved her legs and then he was a she. She says hey babe, take a walk on the wild side ...“

Uli in Gesellschaft am 12.06.2011 um 11.30 Uhr

Werkzeuge:  |  

Auch ansehen:

Kommentar verfassen

 

Damit wir auch wissen, dass Du ein Mensch bist, musst Du unten in das Feld „Sicherheits-Code“ bitte noch die Buchstaben oder Zahlen aus dem Bild links abtippen.

Die Felder mit * sind verpflichtend.

Datenschutz-Hinweis: Alle Daten, die in dieses Formular eingetragen werden, können auf dieser Seite als Einträge angezeigt werden. Zusätzlich werden IP-Adresse und Zeitpunkt der Übermittlung in einer Datenbank gespeichert, um im Falle strafrechtlich relevanter Eintragungen die Herkunft nachweisen zu können.