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Der Blog des Goldseelchen-Verlags
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Kurzgeschichte. Teil 2

Gott mit uns


Bild: Uli
 (© Eckdose)

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Verrückte Sache. Ein Verrückter glaubt, dass er verrückt sei. An Kasse Drei kam ich gleichzeitig dran wie der Prophet an Kasse Vier, der noch immer ganz entsetzt aller Welt versicherte, dass er kein Hellseher, sondern nur ein Witzbold sei. Mit der Flasche Orangensaft verließ ich den Supermarkt, um mich zwischen die Menschen an der Stadtbahn-Haltestelle zu reihen.

Viel zu viele Wartende hatten sich angesammelt und standen in der Kälte. Ich zog meine Handschuhe an und, wie es pflichtbewusste Bürger neuerdings zur Aufgabe hatten, hielt Ausschau nach verlassenen Gepäckstücken. Aber bei dem Wetter hatte kein Terrorist Lust. Der Zug kam trotzdem viel zu spät und viel zu voll.

Das Glühweintrinken verlief erwartungsgemäß ereignislos und Plätzchen konnte ich zu dieser Zeit schon keine mehr sehen. Auf dem Rückweg bekam ich in der vollen Stadtbahn einen guten Stehplatz. Ideal zum Nachdenken über das nahende Weihnachten und meine negative Grundeinstellung geselligem Glühweintrinken gegenüber. Außerdem konnte ich von da gut alleinstehende Gepäckstücke, ebensolche Mütter und sonstige verdächtig aussehende Personen beobachten.

Da, links von mir, war der Mittdreißiger, der bewusst aus dem Fenster blickte. Da war die Frau mit Kopftuch, die irgendetwas in einem Kinderwagen herumgruschtelte. Da war der Schwarzafrikaner. Und da war die junge Frau mit der Wollmütze, die mich musterte. Auf der anderen Seite saß ein südländisch aussehender junger Mann, der unbeirrt auf die Stationen-Anzeige starrte. Neben ihm war eine Frau, die nicht von mir wegsah, als ich sie anblickte. Sie guckte mich auch dann noch an, als sie ihr Mobiltelefon ausgepackt hatte, eine Nummer gewählt hatte und mit gedämpfter Stimme telefonierte. Sie sah mich murmelnd an.

Ich musste grinsen und drehte mich um. Mein Kopfkino hatte mir gerade einen kleinen Kurzfilm vorgespielt: Ein Fahrgast steht in der Stadtbahn. Etwas verunsichert von den Terrorwarnungen beobachtet er die anderen Passagiere. Er erblickt eine Frau, die ihn die ganze Zeit ansieht. Als sie in ein Mobiltelefon spricht, vermutet er in ihr eine Terroristin. In Wirklichkeit informiert sie die Bundespolizei. Wenn der Fahrgast bei seiner Station aussteigt, warten dort schon die Beamten, die von der Frau an ihn verwiesen werden. Er selbst wird als Verdächtiger festgenommen und in Untersuchungshaft gebracht. Und dann ein Blick in die Runde: Sämtliche Weihnachtsmänner der Stadt sitzen dort aufgereiht.

Noch immer grinsend stapfte ich durch meine Straße. „W-Wieso lachst du?“, fragte eine bekannte Stimme von rechts unten. „Hallo, Manuel! Mir ist gerade eine lustige Geschichte eingefallen.“ – „Ist die mit ’nem H-Hund? D-Du hast mir doch mal...“ – „Nee, die erzählt von einem Weihnachtsmann.“ Plötzlich ließ das sonst fröhliche Kind seinen Schneeball aus dem Fäustling fallen. „Der W-Weihnachtsmann bringt gakeine Geschenke.“ Welch eine kluge Erkenntnis! Ich überlegte, ob ich die ganze brutale Wahrheit erzählen sollte, dass es ihn nicht einmal gäbe. Manuel kam einer ernüchternden Aufklärung zuvor. „Ich k-krieg Weihnachten gakeine Geschenke. M-meine Eltern sagen, d-der Weihnachtsmann hat keine L-Lust mehr.“ Wenigstens ehrlich könnten sie sein, dachte ich mir. Doch noch ehe ich einen Vortrag über die Werte des Zwischenmenschlichen erheben konnte, brachte mich mein kleiner Freund gänzlich zum Verstummen. „Aber d-du hast mir doch mal den H-Hund geschenkt. Der passt jetzt immer auf m-mich auf. Da ist immer Weihnachten für mich.“

[Hebräisch „Immanuel“ bedeutet „Gott mit uns“.]

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Uli in Literatur am 23.12.2010 um 22.15 Uhr

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