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Der Blog des Goldseelchen-Verlags
Kurzgeschichte. Teil 2
Nach wie vor schneite es vom irritierend weißen Himmel. Bei der Stadtbahn-Station hatte irgendwann an diesem Tag einmal das Ordnungsamt für geräumte Wege gesorgt. Das hatte sich aber relativiert, denn die vielen Menschen trugen mit ihren Winterstiefeln den Schnee auch auf die freien Flächen. Dort sorgte eine Mischung aus Schneematsch, Streusalz, Urin von Hunden und Straßendreck für einen unangenehm rutschigen Bodenbelag. Ungewöhnlich viele Leute drängten sich unter der überdachten Haltestelle, die eine hübsche Schneehaube trug. „Gott mit Ihnen“, sprach eine alte Bettlerin, als sie meine Geldbörse um fünfzig Cent erleichterte. Die nachfolgenden Dankesworte hörte ich schon nicht mehr.
Der Netto-Supermarkt war brechend voll, die Luft stank zum Brechen und in der Getränkeabteilung lag eine zerbrochene Flasche am Boden. Angesichts der bevorstehenden Festtage und des immerwährenden Personalmangels scherte sich niemand um die Scherben. Der Boden war sowieso witterungsbedingt nass. Neben dem verdünnten Orangennektar konnte ich ganz hinten im Regal in der untersten Reihe die letzte Flasche Orangensaft entdecken. Mein Fund hätte mich beinahe stolz gemacht, wäre da nicht der Stau an den Kassen gewesen.
Früher einmal, als der Kapitalismus noch ein System war und der Kunde König, da gab es eine Regel, dass nicht mehr als drei Leute an einer Kasse anstehen dürfen. Jetzt half die Erinnerung wenig. In zwei Schlangen standen die Menschen bis in die Spirituosen, während Kasse Vier einfach unbesetzt war. Vor mir schob ein älterer Mann mit einer viel zu großen Pudelmütze seinen Einkaufswagen vor sich her. In der Gemüseecke war er mir bereits mit seinen wirren Selbstgesprächen aufgefallen. In seinem Wagen hatte er, anders als zu erwarten keine Bierflaschen, sondern drei Mülltüten voll mit Abfall, vier Großpackungen Toilettenpapier, ein Dutzend Dosen Prinzessbohnen und ein buntes Sortiment aus dem Reinigungsmittelregal. Als sich unfreundliche Jugendliche an ihm vorbeidrängelten, wich er freundlich lächelnd nach rechts aus. „Gehn Sie nur voa, ich stell mich schon mal hia an. Hia wird glajch aufgemacht.“ An Kasse Vier hatte er einen Platz gefunden, um seinen Rucksack mit dem Einkaufswagen zu arrangieren. „Hia machen die ja glajch auf.“, brabbelte er vor sich hin, noch bevor das schrille Scheppergeräusch die Öffnung einer weiteren Kasse verkündete.
Ein kleines rotes Männchen zwängte sich durch die Spirtuosen und an der Schlange vorbei, um tatsächlich Kasse Vier zu eröffnen. Entsetzt über die Wirkung seiner Worte stammelte der wirre Mann mit seinem Rucksack über dem Einkaufswagen: „Wollte doch nua witzich sajn. Kannich ja nich ahnen, dass die glajch aufmachen.“ Die unfreundlichen Jugendlichen, die sich schon vorher vorbeigedrängelt hatten, zogen unbeirrt an beiden Seiten an ihm vorbei, um sich wiederum vorzudrängeln. „Wollte doch nur witzich sajn. Kannich ja nich ahnen. Ich bin doch kein Hellseher. Wollte doch nur witzich sajn.“
Verrückte Sache. Ein Verrückter glaubt, dass er verrückt sei. An Kasse Drei kam ich gleichzeitig dran wie der Prophet an Kasse Vier, der noch immer ganz entsetzt aller Welt versicherte, dass er kein Hellseher, sondern nur ein Witzbold sei. Mit der Flasche Orangensaft verließ ich den Supermarkt, um mich zwischen die Menschen an der Stadtbahn-Haltestelle zu reihen.
Viel zu viele Wartende hatten sich angesammelt und standen in der Kälte. Ich zog meine Handschuhe an und, wie es pflichtbewusste Bürger neuerdings zur Aufgabe hatten, hielt Ausschau nach verlassenen Gepäckstücken. Aber bei dem Wetter hatte kein Terrorist Lust. Der Zug kam trotzdem viel zu spät und viel zu voll.
Das Glühweintrinken verlief erwartungsgemäß ereignislos und Plätzchen konnte ich zu dieser Zeit schon keine mehr sehen. Auf dem Rückweg bekam ich in der vollen Stadtbahn einen guten Stehplatz. Ideal zum Nachdenken über das nahende Weihnachten und meine negative Grundeinstellung geselligem Glühweintrinken gegenüber. Außerdem konnte ich von da gut alleinstehende Gepäckstücke, ebensolche Mütter und sonstige verdächtig aussehende Personen beobachten.
Da, links von mir, war der Mittdreißiger, der bewusst aus dem Fenster blickte. Da war die Frau mit Kopftuch, die irgendetwas in einem Kinderwagen herumgruschtelte. Da war der Schwarzafrikaner. Und da war die junge Frau mit der Wollmütze, die mich musterte. Auf der anderen Seite saß ein südländisch aussehender junger Mann, der unbeirrt auf die Stationen-Anzeige starrte. Neben ihm war eine Frau, die nicht von mir wegsah, als ich sie anblickte. Sie guckte mich auch dann noch an, als sie ihr Mobiltelefon ausgepackt hatte, eine Nummer gewählt hatte und mit gedämpfter Stimme telefonierte. Sie sah mich murmelnd an.
Ich musste grinsen und drehte mich um. Mein Kopfkino hatte mir gerade einen kleinen Kurzfilm vorgespielt: Ein Fahrgast steht in der Stadtbahn. Etwas verunsichert von den Terrorwarnungen beobachtet er die anderen Passagiere. Er erblickt eine Frau, die ihn die ganze Zeit ansieht. Als sie in ein Mobiltelefon spricht, vermutet er in ihr eine Terroristin. In Wirklichkeit informiert sie die Bundespolizei. Wenn der Fahrgast bei seiner Station aussteigt, warten dort schon die Beamten, die von der Frau an ihn verwiesen werden. Er selbst wird als Verdächtiger festgenommen und in Untersuchungshaft gebracht. Und dann ein Blick in die Runde: Sämtliche Weihnachtsmänner der Stadt sitzen dort aufgereiht.
Noch immer grinsend stapfte ich durch meine Straße. „W-Wieso lachst du?“, fragte eine bekannte Stimme von rechts unten. „Hallo, Manuel! Mir ist gerade eine lustige Geschichte eingefallen.“ – „Ist die mit ’nem H-Hund? D-Du hast mir doch mal...“ – „Nee, die erzählt von einem Weihnachtsmann.“ Plötzlich ließ das sonst fröhliche Kind seinen Schneeball aus dem Fäustling fallen. „Der W-Weihnachtsmann bringt gakeine Geschenke.“ Welch eine kluge Erkenntnis! Ich überlegte, ob ich die ganze brutale Wahrheit erzählen sollte, dass es ihn nicht einmal gäbe. Manuel kam einer ernüchternden Aufklärung zuvor. „Ich k-krieg Weihnachten gakeine Geschenke. M-meine Eltern sagen, d-der Weihnachtsmann hat keine L-Lust mehr.“ Wenigstens ehrlich könnten sie sein, dachte ich mir. Doch noch ehe ich einen Vortrag über die Werte des Zwischenmenschlichen erheben konnte, brachte mich mein kleiner Freund gänzlich zum Verstummen. „Aber d-du hast mir doch mal den H-Hund geschenkt. Der passt jetzt immer auf m-mich auf. Da ist immer Weihnachten für mich.“
[Hebräisch „Immanuel“ bedeutet „Gott mit uns“.]
Uli in Literatur am 23.12.2010 um 22.15 Uhr
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