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Der Blog des Goldseelchen-Verlags
Unfertiger Essay über eine unbekannte Größe
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Hofdiener Spliss kann Rumpelstilzchens nächste Handlung auch nur deswegen voraussagen, weil er sich in einem festen Drehbuch-Rahmen befindet. Der Film erzählt eine Geschichte – und in dem Augenblick, in dem das Böse in der Besenkammer verschwindet, waren die nächsten Ereignisse bereits niedergeschrieben. Komik entsteht hier durch die Gewissheit, mit der Spliss seine Zukunftsaussage trifft. Wir lachen, denn es widerspricht unserer Erfahrung, dass wir über die nächsten Augenblicke, die nächsten Stunden irgend etwas Sicheres sagen können.
Jede Voraussage, jeder Plan ist ungewiss. Auch dann, wenn ich mir noch so sicher wäre, was ich den Tag über unternehmen würde. Meine Planungen können sagen und vorhaben, was sie wollen: Klingelt mein Telefon und Tante Gerda ist am anderen Ende, brauche ich die nächste halbe Stunde erst einmal gar nichts tun. Wenn mich auf der Straße ein Auto anfährt und ich mein Bein breche, liege ich für die nächsten Tage im Krankenhaus.
Aus dem Unwissen über die nächste Zeit lässt sich Profit schlagen. Wie gerne würde ein Mensch frei von ungewollten Überraschungen leben und planen können. Wie gerne würde er über seine nächste Zukunft so verfügen, wie er seine Vergangenheit im Blick hat. Die Unsicherheit, die das unbekannte Nächste mit sich bringt, kann verängstigen.
Die Einen ziehen sich zurück in ihre Vergangenheit. Voller Angst vor dem, was demnächst kommt, rufen sie sich Erinnerungen wach. Indem sie an die schönen Momente des Gewesenen denken, wird die grauenhafte, ungewisse Gegenwart des Nächsten unwichtig. Wer sich sagt, er habe schon etliche Aufgaben bewältigt, baut mit Erfahrungsbausteinen eine gerade Linie der Sicherheit in seine Zukunft. Das geht so lange gut, bis etwas unvorhergesehenes eintrifft. Die Vergangenheit kann nicht der Herr über die noch so nahen nächsten Geschehnisse werden.
Andere versuchen dennoch zumindest über ihre unmittelbare Zukunft zu verfügen. Sie ziehen Karten und Wahrsagerinnen zu Rate. Sie pendeln und beten. Sie glauben sogar an Prognosen, die echte und falsche Propheten aufstellen. Unsere Geschichte ist voll mit Menschen, die glaubten, zu wissen, was als nächstes kommt. Im Nachhinein waren sie immer schlauer. Denn erstens kommt es anders – und zweitens als man denkt.
Martin Luther wird das Zitat untergeschoben: „Wenn ich wüsste, dass morgen der jüngste Tag wäre, würde ich heute noch ein Apfelbäumchen pflanzen.“ Abgesehen davon, dass er den Ausspruch nicht getan hat: Den Apfelbaum wird er trotz diesem Optimismus nie gepflanzt haben. Das Nächste ist und bleibt unbekannt.
Deutlicher wird diese unbekannte Eigenschaft des Nächsten, wenn man das Wort genauer ansieht. Es ist egal, ob ich eine Bedeutung wähle, die im Raum oder in der Zeit liegt. Stets zeichne ich einen Kreis der Nähe um meinen Standpunkt. Alles, was innerhalb des Kreises unmittelbar an mich heranreicht, ist das Nächste. Je weiter die Angelegenheiten von meinem Punkt entfernt sind, desto weniger kenne ich sie.
Uli in Philosophie am 30.05.2010 um 16.52 Uhr
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