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Der Blog des Goldseelchen-Verlags
Fenster vom 10. Dezember
Furchtbar traurig sitzt Lili in der Ecke. Sie kauert sich ganz nah an die Wand – so nah, dass da nichts mehr zwischen ihr und der Wand ist. Am liebsten würde Lili in die Wand kriechen. Sie hat beschlossen, dass die Ecke ihr neuer Freund ist. Freunde spielen mit einem oder trösten einen. Das soll auch die Ecke. Die sagt wenigstens nichts. Außerdem kann die Ecke zuhören. Sie weiß genau, wie es ihr, Lili, geht. Und: Die Ecke sitzt genau da, wo auch Lili jetzt zusammen-gekauert sitzt. Lili hat Heimweh. Sie ist ganz weit weg von zu Hause. So weit weg, dass sie nicht mehr weiß, wo genau ihr Zuhause ist.
Wenn man Lili sieht, muss man lachen. Lili sieht nämlich ganz lustig aus. Unter ihren traurigen Augen sind schmale Streifen, die sich nach unten über ihre rosa Wangen ziehen. Mitten im Gesicht ist ein grau-roter Fleck. Und auf Lilis Kopf stehen die hellgrauen Federn kreuz und quer. Lili ist ein Küken. Wie alle Zebrafinken hat sie einen roten kurzen Schnabel, Clownsstreifen im Gesicht und das Namen-gebende Zebramuster an den Schwanzfedern. Weil Lili aber noch klein ist, ist das Federkleid noch mehr grau als gemustert. Erst, wenn sie groß ist, ist ihr Schnabel schön rot. Dann ist auch der lustige Flaum auf ihrem Kopf nicht mehr da. So, wie sie jetzt ist, wirkt sie richtig zerstrubbelt.
Lili war in einem schönen Nest aufgewachsen. Sie hat drei Geschwister. Pinki, der als erster aus dem Ei gekrochen war. Als zweites hatte Lili selbst ihre harte Eischale von Innen durchstoßen. Ihre jüngere Schwester heißt Piep. Einen Tag nach Lili war sie geschlüpft. Als letztes kam der ganz kleine und schwa-che Tschilp aus dem Ei. Alle waren sie einmal so groß wie der Nagel vom kleinen Finger gewesen. Man könnte ein Zebrafinken-Ei leicht mit einem Tic-Tac verwechseln, so klein ist es.
Als Lili und die anderen Küken klein waren, haben sie zusammen um die Wette geschrien. Mama und Papa Fink hatten ganz schon zu tun, sie alle satt zu kriegen. Jeden Tag bewunderten sich Lili und ihre gefiederten Geschwister, wie sehr sie schon gewachsen waren. Pinki, der die lauteste Stimme von allen hatte, war am schnellsten gewachsen. Voller Stolz zeigte er den Anderen, wie schön seine Federn in den Tagen, die sie im Nest waren, geworden sind. Er streckte sich und putzte sich. Pinki war ein ganz eingebildeter großer Bruder. Er hat Lili beigebracht, wie man sich mit der Kralle am Hinterkopf kratzt. Und er hat, wenn es kalt war und Mama und Papa nach Körnern suchten, sich ganz breit im Nest gemacht, dass sich alle an ihn hinkuscheln konnten.
Wie schön und gemütlich war das doch noch im Nest gewesen! Und wie allein fühlte Lili sich nun in ih-rer Ecke, seit sie aus ihrem Zuhause-Käfig weggebracht worden war! Lili wurde ganz kalt bei den Erinne-rungen. Sie zwängte sich noch ein wenig mehr an die Wand und stellte sich so, als wäre sie nicht da. Viel-leicht würde sie dann einschlafen und wieder im Nest, zu Hause, aufwachen. So schön war es dort gewe-sen. Sie dachte zurück an ihre ersten Flugversuche, als sie im Sturzflug mehr fiel als flog. Erst ganz knapp vor dem Boden traute sie sich, ihre Flügel zu bewegen. Stolpernd war sie gelandet und saß erst einmal staunend über die neue Umgebung dort unten. Oben sah sie Mama und Papa, die von den Plastik-Flugstangen aus zusahen. Mama und Papa! Die waren jetzt auch nicht da. Lili war ganz allein.
Da hörte Lili es neben sich zwitschern. „Tschip, Tschip, Tschip“, machte es. Lili war starr vor Schreck. Sie hätte ihrer Ecke nicht zugetraut, dass sie reden könnte. „Tschip, Tschip, Tschip“, machte es wieder. Vorsichtig, ganz vorsichtig, blinzelte sie mit einem Auge unter ihrem Flügel hervor. Und schloss die Augen ganz schnell wieder. Was sie gesehen hatte, konnte nicht sein. Da saß ein Zebrafink, der sah aus wie sie, nur in bunt. Lili dachte nun fest, sie hätte einen komischen Traum und drückte ihren Kopf noch tiefer in die Flügel. „Tschiptschip Tschiiii“, machte der Traum. Ganz schön nervig! So einen lauten Traum hatte sie noch nie. Aber vielleicht lag das an der Ecke. Die war ihr sowieso noch nie so geheuer gewesen.
Hüpfend, die Wand entlang, sprang Lili weg. Hinter sich hörte sie ein Echo. Der Traum sprang mit ihr durch den Sand. Der Traum verfolgte sie. Jetzt reichte es dem kleinen Zebrafinken-Mädchen. Sie blieb stehen, sprang herum und motzte den Traum an. Der machte aber keine Anstalten, zu gehen. Statt dessen sprang der ein Stück näher und stupste die kleine Lili mit dem Schnabel sanft an. „Hui“, dachte sie. „Der ist ja echt.“ Und dann stupste Lili den bunten Traumvogel zurück an. „Ich habe dich schon zwei Tage da in der Ecke beobachtet“, sagte der andere Zebrafink. „Eigentlich hatte ich gehofft, dass Du irgendwann zu uns in die Zweige heraufkommen würdest. Aber Du hast Dich kaum bewegt. Willst Du mit mir hochkommen?“
Und Lili, erst ganz scheu und verlegen, wollte dann tatsächlich. Sie spannte ihre Flügel aus und flog mit ihrem neuen Freund durch den riesigen Käfig. Was sie dort sehen konnte und erleben konnte war mehr, als sie sich in ihren Zebrafinken-Träumen hätte ausmalen können: Grüne Blätter, die richtig gut schmeck-ten, an meterlangen Zweigen und Ästen. Bunte, lustige Vögel, nicht nur Zebrafinken, waren dort laut zwitschernd unterwegs. Die Einen spielten fangen, die Anderen sprangen übereinander hinweg. Das Leben in dem Käfig war ein einziges Abenteuer. Und Lili freute sich, dass sie nicht in ihrer Ecke sitzen geblieben war. Was hätte sie doch alles verpasst!