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Der Blog des Goldseelchen-Verlags
für Tagfalter und Nachtdenker

Der Blog des Goldseelchen-Verlags

Auf der Suche nach den verschwundenen Miniatur-Möbeln von Bodo Hennig

Die verlorene kleine Welt


In meiner Kindheit der 1990er Jahre gab es Spielzeugläden. Statt Manga-Heften und Rollenspiel-Zubehör gab es da Puppenkleider an kleinen Puppenkleiderbügeln. Es gab viel Holzspielzeug und es gab diese Setzkästen, in denen winziges Zubehör lag für kleine Spielzeugwelten: Puppenstuben. Und in der Welt der kleinen Puppenstuben gab es ganz besonders Bodo Hennig.

Wohndesign-Klassiker in Spielzeuggröße

Die Häuser, Stühle, Sofas, Badewannen, Betten, Regale, Teppiche und all das Equipment von Bodo Hennig waren brillant. Puppenhäuser mimten wie Miniaturmodelle den jeweiligen Architekturgeschmack. Jedes Zimmer – ob Küche, Bad, Wohn- oder Schlafzimmer – bot ein detailreiches Interieur, das den zeitgenössischen Möbelhäusern in nichts nachstand. Die sachliche Eleganz der Sechziger fand man an Kommoden von nur wenigen Zentimetern Höhe in den 1960er Jahren. Knallige Farben der Siebziger fand man in den Puppenstuben der Siebziger nicht nur an Tapeten – selbige gerade mal so groß wie ein A4-Papier. Dabei waren in dieser Zeit auch winzige Plastikstühlchen, die dank ihrer Silhouette ohne die klassischen vier Stuhlbeine auskamen, gern in Orange. In den Achtzigern zogen als Gegenpol zu schrillen Tönen en miniature auch dunkle Holzmöbel in die dunkel abgesetzten großen Einfamilienhäuser mit Dachschrägen ein, wie man sie im Großen selbst bewohnte. Es gab Küchenmöbel, die das Orange der Siebziger noch als kecken Akzent an Schubladengriffen trugen und 45-Grad-Winkel an Räumen wie an Schränken. Die Wohnwelt der Neunziger erreichte eine Romantik-Welle, durchzogen von Jugendstil- und Biedermeier-Reminiszenzen: geschwungene Sofas mit bordeaux-farbenem Bezug mit Blümchen bedruckt, das Küchenbuffet in Neuauflage aus Omas Zeiten, behaglicher Schick mit vereinzelt weißen Bordüren. All das im Maßstab einer Puppenstube für begeisterte Kinderhände und für Sammlerinnen und Sammler.

Als ich aus einem Karton vom Dachboden die fein säuberlich aufbewahrten Möbelchen herausholte – ein Sessel passt gemütlich in eine offen gehaltene Hand – kamen nicht nur die Erinnerungen. Ich fragte mich: „Was ist aus Bodo Hennig eigentlich geworden? Werden heute Mini-IKEA-Regale hergestellt? Tiny Houses mit multifunktionalem Mobiliar? Kleine Smartphones statt der Illustrierten als Accessoire für Puppenhaus-Jugendzimmer?“ – Meine Fantasie war nicht annähernd so groß wie die Ernüchterung, als ich zu recherchieren begann.

Miniatur-Atlantis ist untergangen

Die kurze Antwort lautet: „Alles ist weg.“ In Kinderzimmern gibt es kein Bodo Hennig mehr. Miniatur-Atlantis ist untergegangen. Zumindest gibt es keine aktuellen Bodo-Hennig-Möbel mehr. Und damit auch nicht die Architektur- und Inneneinrichtungsmoden von heute als Miniatur. Ein weiterer Tiefschlag: Nicht einmal einen Wikipedia-Eintrag gibt es zu Bodo Hennig. Und das, obwohl die Verkaufsplattform Ebay heute noch mehr als 1.300 Treffer zum Namen liefert, obwohl unlängst ein Butterfass aus dem Hause Bodo Hennig – trotz possierlicher Größe eines Radiergummis mit einwandfrei funktionierender Mechanik exakt wie das große Vorbild, versteht sich – für 40 Euro über die digitale Gebrauchtwaren-Ladentheke ging.


Bild: sophie
 (© Eckdose)

Von Borstendorf zum Bodensee

Nur wenige Netzseiten gibt es, die Informationen bieten. Eine davon ist die einer Zeitung. Sie zeigt die Traueranzeige von Bodo Hennig, dem Mann, der die kleinen Welten in die Welt brachte. Geboren ist er am 26. Juni 1928 im Erzgebirge. Östlich von Chemnitz liegt der Geburtstort Borstendorf in der als Weihnachtsland bekannt gewordenen Region mit ihrer jahrhundertealten Tradition des Holzkunsthandwerks. Viele kennen die Schwibbögen, Weihnachtspyramiden und all das andere filigrane Holzkleinod, das man heute zwar immer noch in der Gegend nahe der deutsch-tschechischen Grenze findet, aber aufpassen muss, dass nicht „Made in China“ drauf steht. Bodo Hennig wurde 85 Jahre alt und ist am 29. Oktober 2013 in Lindau am Bodensee gestorben.

Dazwischen liegen nicht nur gut 500 Kilometer Luftlinie. Dazwischen liegt ein Berufsleben von nicht weniger als 60 Jahren. Durch die Gemeinde Grünhainichen, zu der Borstendorf gehört, erfahre ich: Hier gab es einst nicht nur eine Spielwarenfach- und Gewerbeschule. Bodo Hennig hat sie auch besucht, schon als 14-Jähriger. Sogar ein Bild des jungen Bodo an der Werkbank stellt die Gemeinde zur Verfügung. Ein Lebenslauf ist mit dabei.

„Wenn ich groß bin, werde ich Spielzeugmacher!“

Bereits als Sechsjähriger sei Bodo von den Spielwarengeschäften auf dem Schulweg so fasziniert gewesen, dass er es gewusst habe: „Wenn ich groß bin, werde ich Spielzeugmacher!“ Damit trat er in die Fußstapfen seines Vaters, des Spielzeugmachers Walter Hennig, der sich inflationsbedingt seit den 1930er Jahren allerdings als Speditionskaufmann verdingte. Dem Gang der Geschichte musste auch Bodos Lebenstraum zunächst weichen: Erst wurde er mit 16 Jahren – wir befinden uns im Jahr 1944 – als Luftwaffenhelfer eingezogen. Um die kommende sowjetische Besatzungszone in der Nachkriegszeit hinter sich zu lassen, legte Bodo Hennig dann die ersten gut 400 Kilometer zurück. Er zog nach Waal im Ostallgäu. Das liegt westlich der Romantischen Straße und etwas südlicher als Landsberg am Lech in Bayerisch-Schwaben. Der Ort hat seit dem 15. Jahrhundert das Marktrecht. Ein Jahrhundert später kam ein Schloss mit flachen Ecktürmchen und hübschem Walmdach auf den Resten einer mittelalterlichen Burg dazu. In Waal erlernte Bodo Hennig das Drechselhandwerk. Während er es bis 1950 bis zum Meister brachte, entwarf er seine ersten Puppenmöbel.

Käsekistchen und Kleinod unter einem Dach

Fast auf halber Strecke Luftlinie zwischen Waal im Ostallgäu und Lindau am Bodensee liegt die Marktgemeinde Dietmannsried nahe Kempten, touristisch auch gerne „Tor zu den Alpen“ genannt. Dort pachteten Bodo Hennig und seine Eltern, zwischenzeitlich ebenfalls zugezogen, eine Drechslerei. Doch von den Puppenmöbeln leben zu können, glich noch immer ferner Träumerei. Ganz bodenständig fertigte die Familie Hennig Holzkistchen für den Schmelzkäse an, der sich in dieser Zeit an den normal großen Esstischen großer Beliebtheit erfreute. Der solide Käsekistchenmarkt trug die Fertigung der Puppenmöbel mit – damals noch eine Liebhaberei nebenbei. Einen Namen hatte die Liebhaberei dennoch schon: „Drei Könige Spielwarenfabrik“. 1951 konnten bereits 32 Artikel – neben Puppenstubenmöbeln auch Holzpferdchen und Krippen – auf der Internationalen Spielwarenmesse in Nürnberg präsentiert werden. Die Käsekistchen-Produktion blieb noch bis 1967 finanzielles Standbein, doch ihr Wirtschaftsanteil wurde immer geringer. Bis 1955 hatte die „Drei Könige Spielwarenfabrik“ einen Betrieb im nahegelegenen Wilpoldsried, beschäftigte zwölf Mitarbeitende und belieferte Kunden in Deutschland und der Schweiz. Wenig später reisten die kleinen Tische und Stühle, Betten und Schränke dann in die weite Welt. Bis in die USA, in Japan und auch Australien fanden sie begeisterten Anklang. Aus der „Drei Könige Spielwarenfabrik“ wurde eine GmbH, die 1961 endlich auch den eigenen Namen im Namen trug: „Bodo Hennig – moderne Puppenmöbel“. Seit 1982 hieß sie kurz „Bodo Hennig Puppenmöbel“.


Bild: sophie
 (© Eckdose)

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14 Millionen Mark Umsatz im Jahr und dann das

Die weiteren Stationen lesen sich wie eine Bilderbuch- und Firmenerfolgsgeschichte: Erweiterung der Werkhalle, Aufstockung des Personals auf 100 Mitarbeitende, ein Puppenofen, der sich 250.000-mal verkauft, moderne Geräte wie Fräs- und Drechselautomaten für detailreiche Präzisionsarbeit, Millionenumsatz. Längst gibt es Kataloge für Puppenstubeneinrichtungen wie heute noch manch Möbelhausbroschüre im Briefkasten.

Die nackten Zahlen der Unternehmensgeschichte lassen es dann plötzlich erscheinen. 1994 steht das Produktionsgebäude in Flammen. Ein Provisorium überbrückt die drei Jahre des Neubaus von Büro, Fertigungsgebäude, Lager- und Holzhalle. Die Kosten dafür sind für die Puppenmöbel-Firma einschneidend. 2002 kommen erst die Kurzarbeit für die noch immer 70 Mitarbeitenden, dann die Insolvenz. Bodo Hennig verkauft seine Lizenzen an die Holzspielzeugfirma nic Spiel + Art GmbH in Laupheim auf der Schwäbischen Alb. Nach 60 Jahren im Beruf lässt er ein Lebenswerk hinter sich und geht 74-jährig in den Ruhestand.

„Die Buben und Mädchen wollen heute anderes Spielzeug“

Sein Sohn Florian, zu Beginn der 2000er Jahre Assistent der Geschäftsführung, verwies einer lokalen Zeitung gegenüber auf die allgemeine und zwar schlechte Lage am Spielzeugmarkt. Allerdings habe man auch am Bedarf der Kinder vorbeiproduziert: „Die Buben und Mädchen wollen heute anderes Spielzeug als früher“, gestand er ein. Heute vertreibt Florian Hennig selbst nic-Spielwaren. „Holzspielzeug liegt im Trend!“, wirbt er. Es ist vor allem das Spielzeug für die Kleinsten, das in Holz im Trend liegt. Natürlichkeit, Schadstoff-Freiheit, Bio-Zertifikat und Regionalität scheinen bei Eltern gerade dann hoch im Kurs zu stehen, wenn das Spielwerk beim Sprössling schnell mal im Mund landet. So gibt es bei nic-Spielwaren Schnullerketten, Rasselbäumchen und Bauklötzchen aus Holz, für Kleinkinder auch Schaukelpferd und Puppenwagen. Doch die filigranen Miniatur-Modelle für die Puppenstube für die motorisch geübteren Kinder und Sammelbegeisterte, die gibt es nicht mehr.

Zwar hatte nic die alten Bodo-Hennig-Möbel zunächst noch in seinen eigenen Katalogen beworben, deren Produktion Anfang der 2020er Jahre dann aber endgültig eingestellt. 225 Exponate schenkte Bodo Hennig drei Jahre vor seinem Tod seinem Geburtsort Borstendorf. Es heißt, Hennig habe es zuvor an vielen Stellen und auch bei anderen Gemeinden versucht. Damals aber habe keine andere Gemeinde oder Firma seine Prototypen haben und ausstellen wollen. Nur Borstendorf habe den kleinen Zeitzeugnissen Obdach gegeben. 2011 wurden sie im Erzgebirge erstmals in einer Ausstellung der Öffentlichkeit präsentiert. Mittlerweile hat der Bezirk Schwaben die Exponate in die eigene Sammlung dokumentierter Alltagskultur aufgenommen. Die „Wohntrends in Miniatur“ zeigt er nun in einer eigenen Ausstellung. Noch bis zum 13. Oktober 2024 kann man sie im Museum Oberschönenfeld bestaunen.

„Das Schöne zieht einen Teil seines Zaubers aus der Vergänglichkeit“

Der Karton vom Dachboden liegt inzwischen inhaltslos neben mir. Während vor mir eine kleine Spielzeugwelt entstanden ist – die Nachttischchen mussten natürlich neben dem Bett stehen, der Spiegel auf der Kommode und das winzige Bowle-Set im repräsentativen Wohnzimmerschrank – frage ich mich, was in den Kinderzimmern den Platz der verlorenen kleinen Welt eingenommen hat. „Natürlich“, entfährt es mir innerlich. Ich denke an „Die Sims“. Zeitlich passt das genau. Die digitale Puppenstube flutete ab 2000 die Computerspielewelt. Die jungen Spielerinnen und Spieler konnten sich am Bildschirm nicht nur Häuser einrichten. Sie konnten Mobiliar selbst entwerfen und ihre Modelle im Netz tauschen. Dann fällt mir auch mein Patenkind ein. Als ich ihm mein Puppenhaus schenken wollte, erkannte der Architekten-Papa zwar sofort die astreine Glanzleistung eines Architekturmodells, doch seine Tochter würdigte das Holzhaus kaum eines Blicks. Wenig später bekam die Kleine ein Playmobil-Schloss geschenkt. Sofort Feuer und Flamme vertiefte sie sich ins Spiel mit den Plastikfigürchen. Mir bestätigt sich: „Die Buben und Mädchen wollen heute anderes Spielzeug als früher.“


Bild: sophie
 (© Eckdose)

Während ich das Atlantis der Vergangenheit vor mir würdige – ein Sessel passt gemütlich in eine offen gehaltene Hand – und während ich mir das Lebenswerk Bodo Hennigs vergegenwärtige, wie mit ihm eine kleine Welt in die Welt kam und auch mit ihm wieder ging, da spüre ich, wie passend seine Familie doch das Zitat auf seiner Traueranzeige gewählt hat. Es ist ein Satz aus Hermann Hesses „Konzertpause“ von 1947, der zart die Dachzeile ziert:

Das Schöne zieht einen Teil seines Zaubers aus der Vergänglichkeit.

sophie in Kunstkultur am 13.04.2024 um 10.43 Uhr

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