Dieser Netzauftritt verwendet Sitzungs-Cookies
Näheres erfahren Sie in der Datenschutzerklärung.
Der Blog des Goldseelchen-Verlags
Eine Typologie des Umgangs mit den gegenwärtigen Verordnungen
Seit Frühling verhängt die Regierung Maßnahmen gegen die Überlastung der Intensivstationen und zwei Drittel der Bevölkerung finden sie, laut Berichten, gut. Wie kann es dann sein, dass immer noch Menschen andere anstecken?
Würden sich all diese zwei Drittel an die Verordnungen, denen sie zustimmen, halten, dann müssten die Ziele der Maßnahmen erreicht sein. Aus dem Bekanntenkreis sind mir zwar einzelne Menschen bekannt, die übervorsichtig sind. Sie hielten die Regeln ein, bevor sie Verordnungen wurden.
Doch längst nicht alle handeln so. Ich versuche mich an einer Typologie von Menschen, deren Zustimmung in eine gefährliche Spirale aus Regeln und Unsinn führt.
„Die Maßnahmen, die momentan gelten, sind ja ganz vernünftig so“, sagt der Kollege ohne Maske an seinem Arbeitsplatz. Ich stehe kurz vor Weihnachten in seiner Bürotüre, trage „Mund-Nasen-Schutz“, bin nur kurz reingekommen, um etwas abzuholen. Es ist muckelig warm, das Fenster war wohl zuletzt am Morgen offen. Klar, wenn niemand sonst im Gebäude ist, kann sich auch niemand anstecken. Haltung: Man muss ja die Regelungen nicht übertreiben.
Aber, Moment mal: Hätte der Kollege nicht eigentlich eine Maske aufsetzen müssen, sobald ich mich zu ihm in den Raum begebe? Als ich nach fünf bis zehn Minuten wieder gehe, öffnet der Kollege nicht das Fenster. Ich hätte ihm theoretisch eine riesige Wolke an Greisentöter-Aerosolen durch meine Stoffmaske ins Büro pusten können. Seine potentiellen Greisentöterpartikel hätten zuvor noch länger Zeit gehabt, die Büroluft anzureichern, in den Flur und anschließend durch meine Stoffmaske zu dringen.
Was ich in dieser folgenlosen fünf- bis zehnminütigen Episode meines Berufslebens lernte, ist: Die mir unverständliche überwiegende Zustimmung zu den Regierungsmaßnahmen gegen die Überlastung der Intensivstationen ist eher theoretischer Art. Nicht einmal die einfachen Prinzipien der so genannten AHA+L-Regel (Abstand halten, Hygiene, Abdeckung von Mund und Nase + Lüften) sind in der Praxis angekommen.
In dieselbe Kategorie fallen die Ansammlungen von Menschen, die vor dem Supermarkt in Gruppen stehend bei einer freudigen Unterhaltung den Durchgang blockieren. Ohne Maske und Abstand stehen sie dort, weichen nicht aus und scheinen nie etwas von den Regeln gehört zu haben. Dass sie nicht mehr in die Kneipe dürfen, ist für sie eine spürbare Einschränkung. Aber wenn’s hilft, die Intensivstationen zu entlasten… Auf ein Feierabendbier kann man sich ja auch trotzdem noch mit zwei, drei Kollegen treffen.
An den Haltestellen sieht man häufiger Menschen, die für den Konsum einer Zigarette die Maske abnehmen. Mit dem letzten Ausatmen beim Einsteigen in den Zug setzen sie regelkonform ihre Mund-Nasen-Bedeckung wieder auf. Sind doch ganz okay, die Maßnahmen, meinen sie.
Die Ernsthaftigkeit der Verordnungen wird manchen erst bewusst, wenn sie nach der Nachtschicht noch schnell an der Tanke Zigaretten holen möchten, aber die Polizei mangels triftigen Grundes daran hindert und je nach Laune plötzlich teure Strafen verhängt. (Ironischerweise kommen Eltern, die im Auto rauchen, während ihre Kleinkinder mit drinsitzen, komplett ohne Strafe davon. Aber das ist ein anderes Thema.)
Eine Bekannte hat Anfang Dezember Geburtstag. Weil es diesmal ihr sechzigster Geburtstag war, wollte sie eigentlich groß feiern. Freunde, Bekannte, Familienmitglieder sollten an einem ganzen Wochenende zu einer krachenden Fete kommen. Das Fest wäre ein so genanntes „Superspreader-Ereignis“ geworden. Zu jener Zeit war es aber lediglich erlaubt, sich mit bis zu zehn Personen aus zwei Haushalten zu treffen.
Die Bekannte traf sich dann jeweils für eine Stunde mit den bis zu zehn Personen. Gut getaktet hatte sie an einem Tag in Folge acht verschiedene Haushalte im selben Raum getroffen. Ganz regelkonform wäre es ihr möglich gewesen, die Greisentöter-Ausbreitung zu verachtfachen.
Als die Regierungen als Treuegeschenk die zwei Kostenlos-Masken für alle Personen ab 60 Jahren verteilen ließen, war die Bekannte übrigens bereits am ersten Tag an der Apotheke gewesen, um für sich und ihren Mann den Ansteck-Schutz abzuholen. Denn die Regeln sind ja gut.
Die Regeln dienen für die Bekannte dazu, einen Handlungsrahmen möglichst weit auszulegen. Ein Verständnis für Prinzipien wäre vorhanden, jedoch sieht die Bekannte nicht ein, sich die gewohnte Freiheit nehmen zu lassen. Sie flog im Sommer ans Mittelmeer, reiste noch zwischen den Weihnachtsfeiertagen über die Grenze zum Einkaufen.
Dieser Typ „Maßnahmen-Zustimmung“ kennt, anders als Typ 1, die geltenden Bestimmungen ganz genau. Man weiß, was erlaubt ist, und was nicht: Wie in der Maultausche wird das zu Verbietende versteckt hinter einer schönen Schicht fleischloser Konformität.
Der Ministerpräsident des Maultaschen-Heimatlandes Baden-Württemberg, Winfried Kretschmann, hat dasselbe verinnerlicht, wenn er am 5. Januar den bundesweiten Maßnahmenverschärfungen unter anderem mit Schulschließungen zustimmt und am selben Abend verkündet, die Befreiung von der Präsenzpflicht heiße nicht, dass die Präsenz nicht dennoch möglich wäre.
Die Maßnahmen gegen die Überlastung der Intensivstationen zielen, wie ja bekannt sein sollte, vor allem auf das Prinzip Abstand. Damit Menschen so wenig Anlässe wie möglich haben, sich zu treffen, sollen sie nirgendwo mehr hin. Das gesellschaftliche Leben wird nach Hause verlagert. Arbeit und Kinderbetreuung soll dort gleichzeitig stattfinden.
Das ist nicht allen möglich: Manche Tätigkeiten kann man nicht von zu Hause machen, manche darf man nicht zu Hause machen. Wer nicht zuhause ist, kann seine Kinder nicht betreuen. Also gibt es Notbetreuung für Unabkömmliche. Das führte bei manchen findigen Bekannten dazu, dass sie sich einerseits von ihren schlecht informierten Vorgesetzten die Unabkömmlichkeits-Bescheinigung ausfüllen ließen. Andererseits saßen sie dann tatsächlich selbst gelangweilt zu Hause herum oder gaben privat Kindern Musikunterricht in der Nebentätigkeit. Während ihre eigenen Kinder in der Notbetreuung waren.
Auch von Geschäftsinhabenden ist uns zu Ohren gekommen, dass sie die allgemeine Notlage der Geschäftsschließungen ausnutzten. Dank Appell an die Solidarität mit dem Handel vor Ort und mit großem Druck auf die Tränendrüse gelang es, den Umsatz während Schließung durch den „lokalen“ Onlinehandel im Vergleich zum Vorjahr sogar noch zu steigern. Beim neuerlichen Lockdown darf man dank großzügigen Regelungen ihres Bundeslandes eine Abteilung des Ladens öffnen. Was die exemplarische Geschäftsleitung auch feixend im Internet verkündete. Kein Wort mehr von Solidarität mit dem anderen Handel vor Ort, der dieses Sonderprivileg nicht nutzen kann. Kapitalismus hatte schon immer ein Arschgesicht. Genau das zeigte sich auch in den Discountern. Deren Ramschartikel waren auf Weihnachten noch nie so ausverkauft wie nun, seit Spielwaren-, Bekleidungs- und Sportgeschäfte nicht mehr öffnen dürfen.
Stärker noch als die Maultaschen-Zustimmenden stürzen sich die Profiteure der Verordnungen auf die Entschädigungen, Hilfsmaßnahmen und (mittlerweile verschwundene) Solidarität. Für sie ist die Aufregung um die Aerosole und ihre Folgen ein Fest. Die Maßnahmen selbst halten viele nur so ein, wie es der Typ 1 tut.
Auf Berufsgruppen lässt sich der Typ 3 gar nicht festlegen. Das, womit sie sich bereichern, wurde eingeführt, weil sehr viele Menschen durch die Maßnahmen am Ende ihrer Kräfte oder ihres Vermögens in jeglicher Hinsicht sind. Notbetreuung ist gedacht für die Kinder der Berufstätigen, die den Notbetrieb des öffentlichen Lebens aufrechterhalten.
Doch wer bereits zu Normalzeiten unsozial, unsolidarisch, unachtsam war, macht im Lockdown schamlos Gewinn oder bezahlten Dauerurlaub, schickt phlegmatisch als Lehrer einmal die Woche unpassende Aufgaben. Währenddessen bereiten manchen Kolleginnen in ihrer überladenen Woche mit Onlineunterricht, Maßnahmen-Erarbeiten, Korrekturen, Sondertelefonaten auch noch die Gewaltfälle in den Familien der Schülerinnen und Schüler schlaflose Nächte.
Es gibt in Deutschland viele Menschen, die ihr Leben zwischen Sofa, Fernseher und Kühlschrank verbringen. Die Grenzen zwischen Ruhestand, Berufstätigkeit, Arbeitslosigkeit, Dauerkrankenstand sind bei diesem Typus fließend. Die gesellschaftliche Teilnahme beschränkt sich auf den Supermarkt und, möglicherweise, das Büro. Größere Sozialkontakte oder der Besuch eines Theaters gibt es für diese Menschen auch zu Normalzeiten nicht.
Die Regierungen schränken mit ihren Maßnahmen die Möglichkeiten der anderen Menschen auf genau dieses Leben des Typs 4 ein. Ein Einfühlungsvermögen von Null, vermengt mit einer großen Portion Missgunst und Gehässigkeit, ergibt dann die kostbare Speise der Schadenfreude: Endlich müssen auch mal alle anderen so leben, wie man selbst es tut bzw. tun muss. Wenn sich für jemanden durch eine neue Verordnung oder ein neues Gesetz nichts ändert, kann er oder sie diesem auch freimütig zustimmen.
Leider finden sich auch viele der Entscheidungstragenden in diesem Typ wieder, was ihr Privatleben betrifft. Abseits von Urlauben fehlt vielen Politikerinnen und Politikern in entscheidungstragender Stellung die Zeit für ein echtes Sozialleben, für einen Einkaufsbummel, einen Ausflug an den See, den Donnerstagsabend im Theater oder den Sonntagmittag im Restaurant. Was sie auf Anraten von Infektionswissenschaftlern an Maßnahmen beschließen, zerstört eine Gesellschaft, an der sie aufgrund ihres Berufs nur nachrichtlich teilnehmen können.
Diese Entkoppelung zwischen Zustimmung zu den Maßnahmen und der Befolgung der Regeln bzw. ihrer Prinzipien führt letztlich dazu, dass die Verordnungen ihr Ziel verfehlen.
Nur wenige Kontrollen und zu häufig wechselnde geltende Regeln sorgen bei einer großen Gruppe von Menschen dafür, dass sie den Regeln zwar zustimmen. Kennen oder befolgen Personen dieses ersten Typs sie allerdings nicht. Die Inkonsequenz der Regelungen sorgt beim zweiten Typ dafür, dass sie ganz regelkonform leben können. Mit ihrem Verhalten halten sie potentielle Verbreitungswege dennoch offen.
Die Folgen sind, dass die Zahlen, die der Moloch täglich ausspuckt, sich also nicht so entwickeln, wie sie die oberen Wächter der Intensivstationen gerne hätten. Die Regeln werden also verschärft. Neue Schlupflöcher bleiben und der Typ 1 bekommt vielleicht häufiger mal eine Strafe oder eine freundliche Verwarnung. Aber an der Zustimmung ändert sich wenig: Typ 1 weiß nach wie vor nicht, was eigentlich verboten oder erlaubt ist. Typ 2 findet weiterhin noch viel Mögliches. Typ 3 bekommt noch mehr Entschädigungen für den Gewinn, den er macht. Und Typ 4 ist bereits so eingeschränkt, dass ihn die 15-Kilometer-Radien nicht weiter stören.
Wer leidet, sind andere. Kinder sind ihren gewalttätigen Eltern schutzlos zuhause ausgesetzt. Man zerrt sie mit Verordnungen weg aus einem sozialen Netz, sperrt sie aus von Schutzstätten und verweigert ihnen eine brauchbare Bildung. Emotionaler Ausgleich gleich welcher Art wird mittels Verordnungen Straftaten gleichgesetzt. Weil die berichteten hohen Zustimmungsraten von den Folgen abweichen, sind sie soziologisch wie infektologisch nichtssagend. Schon gar nicht sind sie als Basis für eine Politik geeignet, die die Gesellschaft gestalten sollte.
Die Spazierrunde ist um 21 Uhr genauso ansteckend wie um 19 Uhr. Plastikspielzeug aus China im Supermarkt ist so gefährlich wie Plastikspielzeug aus China im Spielwarenladen. Man kann auch immer noch zehn Personen infizieren, wenn man sich nacheinander mit zehn einzelnen Kontakten trifft.
Ist das die Zustimmung, wie sie sie meinen?
Uli in Gesellschaft am 06.01.2021 um 14.13 Uhr
Werkzeuge: |