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Der Blog des Goldseelchen-Verlags
Auf der Suche nach einem Deutschsein
„Schaut guat aus“ ist eine Anzeige überschrieben, auf der ein Mann in Lederhose und eine Frau in Dirndl abgebildet sind. Die Werbung wurde nicht in München, nicht in Regensburg oder Straubing eingeworfen, sondern im schwäbischen Tübingen. Der Anbieter ist auch kein bairisches* Modeunternehmen, sondern ein Billigdiscounter des Edeka-Konzerns. Anlass scheint das Oktoberfest in München zu sein.
Bereits 2010 berichteten mehrere Medien über das Phänomen, wonach sich Kleidung im bairischen Trachtenstil nicht nur unter der oberbayerischen Bevölkerung größerer Beliebtheit erfreut. Auch in Hamburg hätte ein Lederhosenverkäufer gute Absatzchancen. Gründe wurden gesucht, zum Teil in den billigeren Kosten – dank Produktion in Fernost – vermutet. Chucks-Schuhe wurden in den letzten Jahren auch sehr gerne gekauft. Und diese sind sogar vorübergehend unverhältnismäßig teurer geworden.
Eher lässt sich der Grund dieses deutschlandweiten irrationalen Lederhosen- und Dirndlfanatismus in der Identitätssuche vermuten. Nicht mehr die antiautoritäre und Traditions-ablehnende 68er-Generation hat das gesellschaftliche Sagen. In „Mode“ gekommen ist ein gewisses Rückbesinnen auf alte Werte, ein Bewusstsein für Überliefertes und Geschichte. Wo Bio draufsteht, steht ein großes Bedürfnis nach Sesshaftigkeit und Heimat dahinter. Urlaub auf dem Bauernhof war nur ein Anfang.
Noch in den 1990er Jahren war die süddeutsche Brezel im Norden der Republik selten und eine teure exotische Ware. Mittlerweile wird in Berlin neben Pfannkuchen bei fast jedem Bäcker das Laugengebäck angeboten. Auf der Biowelle reitend eröffnet die „Münchner Hofpfisterei“ mit ihren hohen Preisen in einst feindlich „preußischen“ Ländereien erfolgreiche Filialen. Als ob nur die Oberbayern Gebäck und Tradition könnten!
Die Deutschen haben auf ihrer Suche nach dem Deutschsein durch die amerikanische Klischeekleiderkammer gehen müssen. Nach dem Krieg bedeutete Entnazifizierung und Entmilitarisierung auch Enttraditionalisierung und Antipatriotismus. Die scheinbar unschuldigen Baiern, die während 12 Jahren Heil-Hitler-Zeit weiterhin „Grüß Gott“ sagen durften, konnten ihre braunen Lederhosen unbeschmutzt auch in den 1950er und 1960er Jahren tragen. Zum Klischee des „Kraut“-essenden Deutschen mit seiner militaristischen Zackigkeit kam aus dem amerikanisch besetzten Bayern verstärkt das heimelige Bild von Lederhose, Dirndl und Pretzl dazu.
So war der Weg nicht weit zur bairischen Identität für ganz Deutschland. Wie sollte man die Kultur eines norddeutschen Fischerdorfes, einer Rheinischen Weinbauregion oder mitteldeutscher Bergbaustädtchen vermitteln, wenn tragende Symbole wenig bekannt sind? Ein Land, das für eine wenig ruhmreiche Vergangenheit verschrien ist und gegenwärtig keine nennbaren Kulturgüter in die Welt verbreitet – wie sollten es seine Vertreter im Ausland besser darstellen, als mit gern gesehenen Symbolen wie Lederhose und Dirndl!
Mag sein, dass vielen die Gleichung Deutscher = Baier aufstößt. Das ist die Funktion eines Klischees: Radikal verknappend, bis hin zur Beleidigung überzeichnend, um brauchbare Bilder hervorzurufen. So denkt man bei einem Franzosen auch an einen Typen mit Baskenmütze und Stangenweißbrot unter dem Arm oder bei einem Schotten an eine Gestalt mit kariertem Barett und Schottenrock. Trägt ein Deutscher – egal ob aus dem Süden oder Norden – nun Lederhose oder Dirndl, will er damit sich und der Welt nur zeigen: Er ist Deutscher und ist stolz auf dieses Deutschsein.
* „Bairisch“ mit „i“ bezeichnet Volk, Sprache und Kultur der Baiern. Das Bundesland und die Regierungsbezirke schreiben sich mit „y“.
Uli in Gesellschaft am 08.09.2011 um 12.02 Uhr
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