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Der Blog des Goldseelchen-Verlags
Zur Tragik und Inflation eines Begriffs
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Mit der Etablierung des Sozialstaats veränderten sich die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen des Solidaritätsbegriffs, wie Dietrich Korsch in einer kleinen Begriffsstudie nachzeichnet. Die Grundlage der einst geteilten Solidaritätserfahrung verlor zunehmend an Prägnanz. Sie löste sich allmählich auf, da der Bedarfsausgleich nun ökonomisch in staatliche Hand geriet. Die staatlichen Sozialleistungen wurden rechtlich verankert und rechenhaft verteilt. Die Folge war eine doppelte Um-Codierung des Solidaritätsbegriffs: Diente einst die Kampfformel der nothaften Absicherung, wurde sie nun dazu gebraucht, einen Anspruch im Normalfall geltend zu machen. Und das Widerstandspotenzial der einst sozial zusammengeschweißten Arbeiter glitt nun weitestgehend ins (bloß) Rhetorische ab. Infolge der Stabilisierung des Sozialstaats tauchte der Solidaritätsbegriff seit den siebziger Jahren unter. Als der Sozialstaat dann Mitte der neunziger Jahre strukturell ins heftige Schwanken geriet, ist auch wieder der Solidaritätsbegriff auf der politischen Landkarte aufgetaucht.
Die Zukunft des Sozialstaats ist bis auf den heutigen Tag ungewiss. Doch wie zu vermuten ist, wird der Sozialstaat in dieser Gestalt nicht mehr lang überleben können. Die utopischen Erwartungen an ihn, die mit einer Sozialidylle liebäugeln, werden bitter enttäuscht werden. Wie es aussieht, steht seinem Absterben nichts mehr im Wege. Die Politik wird daran nichts ändern können, als weitere massive Umstrukturierungen anzuregen. Die Vorschläge dazu sind Legion.
Mit dieser neueren Entwicklung steht ebenso die Zukunft des Solidaritätsbegriffs auf dem Spiel. Doch wenn er seine erneute Konjunktur den sozialstaatlichen Zerfallsprozessen verdankt, dann scheint eines unterdessen gewiss: Eine Verankerung dieser erneut geforderten Solidarität in das bereits marode Sozialsystem wird ein Windmühlenkampf bleiben. Gegenteilige und zuweilen sehr wortstarke Bekundungen verraten die restaurative Gesinnung, denen aber keine solidarische Erfahrungsbasis mehr zur Verfügung steht. Auch moralische Appelle können nicht mehr auf einen gemeinsamen Erfahrungsboden hoffen: Einerseits treten moralische Überzeugungen heute nur noch höchst plural auf. Andererseits verbleibt der Appell nur im Wünschenswerten, dem damit noch keine Realisierung beschieden ist.
Diese scheinbar ausweglose Situation macht es zunächst historisch und inhaltlich recht plausibel, warum der Solidaritätsbegriff so inflationär und damit nichtssagend verwendet wird. Wäre diese Erklärung und Einschätzung aber das letzte Wort in der Sache, wäre einer sinnvollen Gebrauchsweise des Wortes „Solidarität“ damit der endgültige Todesstoß versetzt. Warum dann noch überhaupt von „Solidarität“ sprechen? Es gibt einen guten Grund: Während eine gemeinsame Erfahrungsbasis kaum mehr aufzufinden ist, auf die sich Solidarität beziehen könnte, liegt diese Basis in der Erfahrung dieser höchst unterschiedlichen gesellschaftlichen Erfahrungen. Ein gefüllter Begriff der Solidarität wäre nicht mehr durch eine womöglich gleiche soziale Lage zu fundieren, sondern durch die gemeinsame Möglichkeit zur Erfahrungsdeutung, die uns als Individuen auszeichnet. Diese Solidarität steht nicht mehr horizontal, sondern quer zur plural verfassten Gesellschaft. Sie setzt auf die Vermittlung individueller Gewissheit, wo die eigengesetzlichen Funktionsbereiche der Gesellschaft Individualität ausblenden.
T.Urban in Gesellschaft am 03.02.2011 um 07.58 Uhr
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Meinst Du damit, dass Solidarität sich füllen lässt als Bereitschaftserklärung zum gemeinsamen Wasauchimmer - also sich einfach als zum Anderen ideell zugehörig zu bezeichnen?
Uli am 04.02.2011 um 16.25 Uhr.