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Der Blog des Goldseelchen-Verlags
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Fünf Stolperfallen für den Kopf

Stolperstein – Stolper-mal!


Bild: T.Urban
 (© Eckdose)

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(3) Erinnern oder Verbannen?

Halte ich andächtig vor einem Stolperstein, dann nennt man das gemeinhin „Erinnerung“. Ein bloßer Blick auf das Wort verrät, es geht um etwas „Innerliches“. Doch was wird hier eigentlich „ver-innerlicht bzw. er-innert“ und auf welche Weise? Geht es hier um Mitleid? Eine Tote/ ein Toter wird in meine Gegenwart hinauf beschworen, um mit ihr/ mit ihm mitzuleiden und meine mitfühlende Moral wach zu halten. Geht es hier um Anteilnahme? Eine Tote/ ein Toter wird in meine Welt gerufen, um Solidarität zu üben mit den Verfolgten. Das alles mag bei uns eine Rolle spielen, doch welche Funktion nimmt die Erinnerung in unserer Gesellschaft ein – eine Art von Zivilreligion? Der Ägyptologe Jan Assmann sprach von einem „kollektiven Gedächtnis“, das eine gemeinsame Identität schafft. Diese Identität geht einher mit einer gemeinsamen Geschichtskonstruktion, die so etwas wie einen Zusammenhalt in der Gemeinschaft beschwört.

Eine gegenteilige Interpretation drängt sich in diesem Fall ebenso auf, wie sie sich im Briefwechsel zwischen dem israelischen Historiker Saul Friedländer und dem deutschen Historiker Martin Broszat als Meinungsverschiedenheit aufdrängt. Diese kollektive Form der Erinnerung kann auch eine Form der Mythologisierung und Verdeckung der Historie sein, wie Broszat reklamiert. Über Broszat hinaus ist es kein neues Verdikt, wenn die kollektive Erinnerung als Vorgang der Domestizierung gilt: Über das kollektive Erinnern schließen wir die vergangenen Untaten in Beton ein. Wer wird bei einem Mahnmal, eingewickelt in Wolle aus Stahl, schon wirklich irritiert? Wir gehen vorüber und sind glücklich, dass es nur ein begrenztes Betonobjekt ist! Die Untaten werden eingemauert in Gleichgültigkeit, die im Alltag versinken. Erinnern heißt dann so viel wie: unbeteiligt vorübergehen und sie endgültig loswerden. Das Gemeinwesen hat Vesikel des kollektiven Vergessens geschaffen. Die erfolgreiche Integration in den Alltag raubt dem Erinnern seine Bedeutung.

(4) Mahnmal oder Kunstwerk?

Die Vielzahl der verlegten Stolpersteine ist zum weltweit größten dezentralen Mahnmal angewachsen. Ein Mahnmal soll Betroffenheit auslösen; soll Erinnerung tradieren. Die Opfer sollen nicht in Vergessenheit geraten. Der Raum zwischen den Steinen könnte als Gedächtnisraum gesehen werden, der eine Gesellschaft über Solidarität zusammenhält. Die Erinnerungskunst des Mahnmahls ist eine Errungenschaft, die ihr eigenes Erinnerungsvermögen erhöht, um Identität und Kontinuität zu gewährleisten. Was für die Gesellschaft eine Funktion ausübt, wird für den persönlich Betroffenen zum reinen Selbstzweck: Man sieht sich an Kants Selbstzweckformel des kategorischen Imperativs erinnert: „Handle so, dass du die Menschheit sowohl in deiner Person, als in der Person eines jeden anderen jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel brauchst.“ Ich gedenke eines Opfers seiner Person willen und nicht, weil es einen gesellschaftlichen Nutzen brächte. So stehen auch die Stolpersteine ganz im Dienst der von den Nationalsozialisten Verfolgten und Ermordeten.

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T.Urban in Geschichte am 01.02.2011 um 21.30 Uhr

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Kommentare

Kommentar:

Ein nahezu enzyklopädisches Nachdenken über die Stolpersteine Danke, Tobi - Sie haben Dich also nicht nur angestoßen. Zum Letzten hätte ich noch eine Ergänzung bzw. einen Einspruch: Die Rolle des Opfers anzunehmen, bedeutet eine Loslösung von Schuld. Als Opfer werde ich nicht mehr zur Verantwortung gezogen. Und die Position würde neue Handlungsräume eröffen. Auf diese Weise solidarisiert sich die Sekte TOS mit den Holocaust-Opfern, um moralische Hemmungen zu überwinden...

Uli am 02.02.2011 um 09.07 Uhr.


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