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Der Blog des Goldseelchen-Verlags
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Unsere Zeitgeschichte wird überbewertet

Das gelobte Land und andere Märchen


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Bild: Uli
 (© Eckdose)

Wer hat Amerika entdeckt? „Kolumbus“, antworten die Kinder und finden die Geschichte vom Mann, der einfach so aufs weite Meer hinausfuhr, richtig spannend. Dass dies im Jahr 1492 geschah und für uns Europäer seither die Welt nicht mit Island aufhört, gehört irgendwie mit zu dieser Geschichte.

Manche meinen die Geschichte besser zu kennen und erzählen dann davon, dass skandinavische Entdecker bereits im Hochmittelalter nicht nur Grönland, sondern auch die Küste des amerikanischen Kontinents entdeckt hätten. Damit seien die Wikinger die wahren Entdecker Amerikas.

Geschichte ohne Folgen

Die Reisen in den weiten Westen haben nachweislich stattgefunden. Kanadier müssen nicht nach Skandinavien reisen, um Wikingersiedlungen zu besuchen. Die Ausgrabungsstätte L’Anse aux Meadows im Norden Neufundlands zeigt ein isländisch-grönländisches Dorf etwa aus dem Jahr 1000. Europäer waren nachweislich fünfhundert Jahre vor Kolumbus auf der anderen Seite des Atlantiks.

Das ist ein schönes Wissen und sicher ein interessantes Programm, wenn jemand mal nach Kanada reisen möchte. Aber es ist eine vollkommen unbedeutende Anmerkung, was die Entdeckung Amerikas für den europäischen Kulturkreis betrifft. Syphilis, Mais, Kartoffel, Tomate und Paprika kamen erst ab 1500 in die Alte Welt. Typhus, Cholera, Weizen, das Pferd und das Rad bereicherten erst ab 1500 die Neue Welt.

Zeitgeschichte lässt sich in ihrer Bedeutung nur dann mit Recht von Mythen und erdachten Erzählungen unterscheiden, wenn sie Folgen für die Gegenwart hat. Genauer: Wenn sie einschneidende Folgen für die Gegenwart hat. Ich muss aus der Geschichte Lehren ziehen können, damit sie Bedeutung für mein Leben gewinnen kann. Sonst bleibt sie vielleicht spannend, aber unnütz.

Der Unterschied zwischen Erfindung und Geschichte

Stellen wir uns einmal vor, chinesische Seefahrer seien im Spätmittelalter nach Amerika gekommen. Dort hätten sie vielleicht, wie bei den Expeditionen nach Afrika, wilde Tiere gefangen oder von den Einheimischen geschenkt bekommen. Der Kaiser im Reich der Mitte hätte seinen Zoo vorübergehend mit wahren Exoten ausstatten können. Und dann?

Die chinesische Landwirtschaft wurde nicht durch Mais oder Kartoffeln bereichert. Amerikanische Ureinwohner haben weder das Rad noch Porzellan empfangen. In Kalifornien wurden nicht einmal chinesische Siedlungen ausgegraben. Somit wäre dieser Besuch, selbst wenn es ihn gegeben hätte, historisch genauso unbedeutend wie wenn wir uns diesen Besuch vorstellen. Da es keine Spuren und Folgen gibt, ist eine wahre Begebenheit in der Bedeutsamkeit exakt identisch mit einer unwahren Geschichte.

Wirkliche Folgen einer nicht geschehenen Geschichte

Es gibt auch umgekehrte Fälle, wo die Sage wichtiger ist als das, was stattfand. Gehen wir weg von Amerika und blicken in den nahen Orient, an die Ostküste des Mittelmeeres. Dort befindet sich seit 1948 der Staat Israel. Die Geschichte dieses Landes ist die Geschichte eines Volkes mit einer gemeinsamen religiösen Identität. Mit der Bibel begründeten Menschen unterschiedlicher Kulturen aus verschiedenen Ländern ihre gemeinsame Herkunft. Sie betrachten sich als Nachfahren des auserwählten Volkes.

Dieses sei nach biblischen Berichten in Ägypten in der Sklaverei gewesen, bis es unter Mose befreit wurde. Der religiöse und politische Führer brachte sie in ein Land, das Gott ihnen versprochen hatte. Es war das Land, in dem ihr mythischer Vorfahr Jakob gelebt hatte, der Israel genannt wird: Das Land Israels. In der Geschichte habe das auserwählte Volk nicht nur das ganze Land zwischen Jordan und Mittelmeer, See Genezareth und Bethlehem, sondern auch das Ostufer des Jordans, die Länder vor dem Negev und Ortschaften bis in den Norden besessen. Historisch lässt sich das nicht nachweisen. Man ist sich sogar einig, dass niemals das gesamte Land erobert wurde und das Volk Israel als Ganzes nie in Ägypten war.

Interessant ist jedoch, dass diese mythische Geschichte echte Auswirkungen auf die Zeitgeschichte bis in die Gegenwart hat. Der Anspruch des jüdischen Volkes auf das heutige Land Israel leitet sich aus dem Mythos ab. Die geschilderte Erfahrung der Knechtschaft in der Fremde führte bereits im antiken Israel dazu, dass Sozialgesetze geschaffen wurden, die für Fremdlinge im Land gute Behandlung forderten.

Die Abgrenzung ist willkürlich

Die nicht historische Geschichte vom Volk Israel hat also mehr Auswirkungen als die historischen Reisen der Skandinavier nach Amerika. Anders gesagt: Ihre Wirklichkeit erhält jede Geschichte erst durch ihre Folgen. Der Unterschied zur erfundenen Geschichte bleibt reine Willkür. Eine Grenzziehung könnte man auch anders treffen.

Früher erzählten die Lehrer vom Mann Mose und dem Einzug ins gelobte Land. Heute erzählen die Lehrer vom Mann Kolumbus und der Entdeckung des gelobten Landes. Unsere Geschichtswissenschaft ist nichts anderes als eine gesellschaftlich akzeptierte Märchenschmiede.

Uli in Geschichte am 07.12.2013 um 12.18 Uhr

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